Mittwoch, 22. Mai 2019

Der Grundzustand der menschlichen Existenz

Bonn ist die Stadt, in der man immer auf irgendetwas wartet: Darauf, dass der Bus kommt, die Straßenbahn oder das Wochenende, ein beliebiges Ereignis, irgendeine neue Bekanntschaft oder dass die Bauarbeiten endlich enden.

Unlängst fiel mir auf: Über der ganzen Stadt, da schwebt – weit oben in den Wolken – eine Milchglaskuppel der Lethargie, und zähflüssig tropft die abgestandene Luft durch die Gassen, sodass alles zeitlupenartig dahinfließt: Die endlosen Ströme der durch die Hofgartenanlage flanierenden Spitzbuben, eingehüllt in dicke Wolken aus Bluetooth-Boxen-Deutschrap und Grasgeruch, direkt dahinter ein Tross knallbunte Alkoholmischgetränke schwenkender junger Frauen sowie endlich eine Parade aus Multifunktionsjacken umwickelter Kinderwagenkolonnen, umrahmt von rotköpfigen Hobbyleichtathleten; und unentwegt zieht dieser bacchantische Taumel von der Innenstadt in Richtung Rheinaue und zurück, – ohne Sinn und ohne Ziel – in der nervösen Hoffnung, dass irgendwann mal was passiert; tagsüber die gesamte Rheinpromenade einnehmend – wo bei Nacht leise die Bootstegtore knarzen und der Vollmondschein sich eitel in der glatten Wasseroberfläche spiegelt; vielleicht sitzt irgendwo, versteckt auf einer Bank, ein junges Paar und knutscht enthemmt, ein Fahrraddynamo rotiert vorbei, danach dichte Stille – sodass man für einen Augenblick den Wunsch verspürt, mit allem eins zu werden: Mit dem nassen, kalten Stein, an den weit unten dunkel der Rhein schwappt, dem stoisch aus der Ferne zuschauenden Siebengebirge und einer endlos goldgelb leuchtenden Laternenlichtallee.

Ein kleines Theaterstück, immerfort aufgeführt vor dem Hintergrund der längst erschlafften Erwartung irgendeines historischen Ereignis. Man ist wohl einfach rausgefallen aus der Weltgeschichte – zack! – und dann war’s das: Mauerfall, Wende, Umzug nach Berlin, Schluss.
Die ganze Stadt ist nunmehr durchzogen von verstaubten Relikten: Der Bundestag, das sinnlos gewordene Diplomatenviertel in Bad Godesberg und Konrad Adenauers private Fähre, die jetzt als Chinarestaurant verkleidet, behäbig auf dem Rhein treibt.

Diese drückende Ereignislosigkeit, das ewige Warten der Stadt, verschlug mich an irgendeinem lauen Sommerabend in die Bahnhofsgegend, als der Umbau bereits begonnen hatte und ich mich auf ein paar Bier und ein paar Zigaretten zu viel zu den Menschen setzte, die mir Spannenderes zu erzählen haben als das, was in den Büchern steht; sodass es sich ergab, dass ich am Sonntagmorgen in meinem grauen Mantel und den abgewetzten Lederschuhen auf der Steintreppe des sogenannten »Bonner Lochs« rumstand und in den schwarzen Himmel starrte. Zwei Bäume ragten dort nach oben. Es fuhren keine Bahnen mehr. Im Bahnhof hingen oder lagen oder saßen Jugendliche auf orangefarbenen Plastiksitzen; und der Drang ist groß, jetzt abzuschweifen und zu schreiben, dass sie alle gleich aussahen, für mich nichts waren als ins Gesicht gezogene Nike-Kappen und ein paar teure Turnschuhe in engen Trainingshosen, die Mädchen stark geschminkt und laut; und ich würde gerne schreiben, dass ich das – trotz allem – als fürchterlich vital erachte, dass ich finde, dass diese bleichen Gesichter, die vereinzelt in der Nacht aufblitzen und deren überraschtem Blick man ansieht, dass der Konsum von harten Drogen ein denkbar dummes Hobby ist, eine Art absurden Pulsschlag bilden, einer Stadt, die in sich selbst versinkt, träge leuchtet, friedlich schweigt.

Jetzt, wo die Bauarbeiten abgeschlossen sind, ich verwirrt im grell erleuchteten Einheitsschlauch des Bonner Bahnhofs herumstehe, das Leid der Menschen lieblos überschminkt ist, und ich – ratlos wie Buridans Esel – gar nicht weiß, welcher von beiden Backwerkfilialen ich nun mein Münzgeld in den Rachen werfen soll, – neben mir ein Vierundzwanzig-Stunden-Kiosk, den wirklich niemand mehr braucht, da die eigentliche Stammkundschaft von den seit kurzer Zeit patrouillierenden Wachleuten sofort verscheucht wird und ihr alter Stehplatz am Busbahnhof unversehens hinter notdürftig hochgezogenen Holzverschlägen verschwand – da bin ich froh, mich zurückerinnern zu können, in Bonn das Warten gelernt zu haben, da muss ich an die Ungewissheit der Baustelle, ja vielleicht sogar eine Art Vorfreude zurückdenken, als alles noch offen stand, da spüre ich die Bonner Ziellosigkeit dankbar durch die Glieder schlurfen, lache müde und frage mich entspannt, was wohl als Nächstes nicht passieren wird, in dieser schrecklich schönen Halbschlafstadt.

Samstag, 11. Mai 2019

Ein Abend in der Schlangengrube

Ich hab die Außengrenze nachgezogen,
meine Eisprinzessin
an ihrem Hals aus Glas gepackt und
bin für einen flachen Atemzug
in dem verträumten Vollmondblick versunken,
der sich, durch mich hindurch, ins Nichts verliert;
ich hab mit Worten wie ein Hagelschauer
versucht, vergangenes Versagen
zu verdecken,
so gut es geht so etwas wie ein Mensch
zu werden und zu bleiben.

Die Welt ist rostendes Metall,
meine langen Spinnenbeine werden Stein,
derweil der zaubergiftverseuchte Geist –
als halb zerfall'nes Riesenrad –
verschwommen durch die Wolken streift.