Montag, 24. Juni 2019

Zwei Ungerechtigkeiten und eine Menge Wut

Ein junger Mann sitzt in der Innenstadt. Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Haut spannt auf spitzen Knochen. Im Kopf nur fieberhafte Wut.
Direkt daneben wird ein Einkaufszentrum gebaut: Wo zuletzt – und eigentlich schon immer – Menschenmassen mit großen Pfandflaschensammeltüten und Bergen aus geleerten Kästen Billigbier rumsaßen, da steht heute ein Wachmann in grüner Weste und trägt eine Sonnenbrille wie die Polizisten in den USA – nun, zumindest wie die Polizisten in den Filmen, die er abends so gern auf seinem Sofa sitzend schaut. Dabei trinkt er kaltes Bier. Drei Flaschen, dann schläft er ein. Wenn er morgens wach wird, brummt sein Schädel und der Fernseher flackert.

Am Bahnhof wurden die Mülleimer ausgetauscht und haben jetzt Solarzellen eingebaut, bemerkt der Wachmann, stark verkatert zur Arbeit schleichend.
Auf die Frage, wofür die gut sein sollen – also die Solarzellen – und warum die Stadt denn überhaupt neue Mülleimer braucht, entgegnet der zuständige Sachbearbeiter, ein wenig widerwillig vielleicht, dass man aus diesen knallroten Blechvierecken, die witzig vor sich hin blinken und ein bisschen Strom ins Netz einspeisen, jetzt kein Pfand und keine Essensreste mehr rausholen kann. Eine Klappe, wie bei einem Kleidercontainer, verhindert das. Weil das unmenschlich sei. Weil man das niemandem zumuten könne, so leben zu müssen. Deswegen wird das jetzt auch unterbunden.
Da freut sich der Sachbearbeiter: Das hat man gut gelöst, findet er. Einen wichtigen Beitrag zum Umweltschutz nennt er das.
Verrohung der Gesellschaft sagt der junge Mann dazu.

Die Menschenmassen und ihre Pfandflaschensammeltüten sind verschwunden. Allein der Wachmann in seiner grünen Weste steht noch da und schaut den jungen Mann argwöhnisch an. Der zuckt nur müde mit den Schultern. Sonst ist niemand auf dem Platz.
Es beginnt zu regnen. Der Wachmann denkt an sein Bier und seine Filme, dann setzt er seufzend die Sonnenbrille ab. Der Andere sucht Unterschlupf vor den Regentropfen und schlendert in Richtung der U-Bahn-Haltestelle. Seine beiden Beine staksen stumpf die Stufen runter. Es riecht nach Schnaps, Urin und Tabak. Vereinzelt sitzen zerfetzte Seelen im Dreck und fragen nach Geld. An allen Ecken sieht – beziehungsweise: hört – man laut kreischende Kinder. Die Mütter lächeln dann ganz herzzerreißend, manche schreien auch zurück.
Bei dem Geschrei der Kinder muss der junge Mann an früher denken und kriegt Kopfschmerzen.

Er war ein Schlüsselkind: Der Vater irgendwann verschwunden, die Mutter bis spät abends auf der Arbeit, dann sediert vor dem TV.
Sie wohnten am äußersten Rand der Villensiedlung. Nach der Schule musste er zum Mittagessen in die großen weißen Häuser der anderen Familien. Dort hat man ihn geduldet, wie man Flüchtlinge toleriert, weil offen zuzugeben, dass man andersartige – in diesem Falle: mittellose Menschen – und alleinerziehende Mütter als schmarotzendes Gesindel sieht, auch in gut betuchten Kleinstadtkreisen noch immer nicht als schicklich gilt.
Sein Haus war karg und schief und die Fassade ein Dickicht aus wild gewachsenen Efeuranken, in denen im Frühjahr eine Hand voll Amseln nistete und sich dort oben vor den gierig umherstreunenden Straßenkatzen versteckte.
Das fand er eigentlich viel schöner als die strahlend weißen Villenbauten: Vor denen standen nur viereckige Platanen in grauen Kieselsteinquadraten.

Er saß dann mittags an einem endlosen Küchentisch. Der Kühlschrank hatte stets zwei Türen und in eine von beiden – in der Regel die rechte – war eine Eiswürfelmaschine eingebaut. Die fremde Mutter schwieg. Der fremde Vater musterte ihn misstrauisch. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Haut spannte auf spitzen Knochen. Im Kopf nur fieberhafte Wut.
Er sagte dann kein Wort und kratzte mit der Gabel auf dem Teller rum oder starrte auf den Boden.
Es wäre gut, unsichtbar zu sein, dachte er dann oft.

Jetzt sitzt der junge Mann im U-Bahnhof unter dem neuen Einkaufszentrum; oben verwirrte Pfandsammler ohne Pfand und rote Blechvierecke, die den ärmsten der Armen selbst noch weggeworfene Essensreste vorenthalten.
Und wenn auch hier unten ein kalter Wind weht, kann er nicht aufhören, an die marmornen Wolken zu denken, die sich am Himmel traurig selbst zerfleischen und dass er ein Schlüsselkind war und wie groß und seltsam die anderen Häuser waren und dass das alles stets bedrohlich schien und dann setzt sich dieser Mann mit Hut auf den Sitzplatz neben ihm und er schaut ihn misstrauisch an und würde am liebsten schreien. Schreien. Schreien. Immer weiter schreien, bis ihm die Lunge aus dem Hals raushängt.

Wenn die Menschen doch nur wüssten. Wenn er sich trauen würde, zu sagen, was er denkt und was er fühlt: Über die neuen Mülleimer und seine verkorkste Kindheit und dass immer alle unglücklich sind.
Dann würde er dem Sachbearbeiter sagen, dass sein Begriff von Menschlichkeit pervers ist und dass er ihm ein Leben auf der Straße wünscht; dann würde er den Leuten in den Villen sagen, dass sie bitte an ihren saublöden Eiswürfelmaschinen und ihrer ekligen Moral ersticken sollen; dann würde er seiner Mutter sagen, dass sie alles gut gemacht hat und dass die Wut nicht daher kommt; dass die Wut in Wahrheit daher kommt, dass es Menschen gibt, die gar nichts am allgemeinen Unrecht ändern wollen.
Dann würde sich sein Brustkorb heben und senken. Dann würde Haut auf spitzen Knochen spannen. Und im Kopf, da wäre endlich keine Wut mehr, sondern nur noch dieser eine, unbedingte Wunsch: Seid bitte einfach menschlich zueinander.

Albtraum einer Stubenfliege

Atlas stand auf dem Marktplatz und starrte verschlafen in den Himmel. Ein Sturm war aufgezogen und hatte sich, mit den Rufen der Marktschreier vermischend, als schweres Tuch über die Stadt gelegt.
Es war ein merkwürdiger Nachmittag gewesen: Erst fiel in der ganzen Stadt der Strom aus, dann fing das Bahnhofsgebäude Feuer und schließlich hatte er sich den Fuß verstaucht, als er, auf der Gehwegkante balancierend, aus einem Augenblick der Unachtsamkeit heraus, das Gleichgewicht verlor. Dazu diese drückende Hitze! Das Wasser tropfte regelrecht aus allen Poren und die vereinzelt mit ihm in Aktion getretenen Mitbürger wirkten allesamt fürchterlich gereizt: Eine Kassiererin hatte die Augen verdreht und ihm die spitze Zunge rausgestreckt, als er ihr einen Haufen schweißdurchnässtes Kupfergeld auf den Tresen schüttete, und ein Busfahrer hatte ihn, ob seiner Trägheit beim Monatsticket-aus-der-Brieftasche-Kramen, verächtlich einen »Windbeutel« geschimpft.

Nun stand Atlas also auf dem Marktplatz, so frei von jeglicher Verpflichtung wie tief im Unwissen um den gegenwärtig waltenden Wochentag versunken. Lange schon – viel zu lange – war das geordnete Leben an ihm vorbeigezogen und funkelte, von dichten Nebelschwaden verschluckt, in der Ferne, wie ein kleiner Diamant am Milchglasgrund.
Stimmengewirr durchzog den Platz, im Hintergrund Donnergrollen oder wild geschüttelte Wellblechplatten.
Plötzlich durchfuhr ein Ruck seine Schulter.
Als er den Blick hob, blieb dieser unvermittelt an dem kantigen Porzellangesicht seiner Jugendliebe kleben.
Stille. Schnelle Atemzüge. Zungen zuckten hinter Zahnreihen. Dann hob Atlas an: »Victor? Bist Du nicht nach…?«
Ein klirrendes Lachen, wie Hagel, der auf halb gefrorenes Wasser prasselt. Victor legte Atlas‘ Kopf in seine bleichen Finger und küsste ihm forsch die Schweißtropfen von der Stirn.
»München. Ja, ich bin nach München gezogen, mein kleiner Seelenriese. Dein Hirn scheint also noch halbwegs zu funktionieren. Es überrascht mich übrigens recht wenig, Dich immer noch hier anzutreffen, es wäre wirklich ein Wunder, hättest Du es auch nur einen Meter aus der Heimatstadt rausgeschafft.«
Plötzlich war da dieses Stechen, inmitten eines Seelenkerns, den zu besitzen er doch sonst so vehement verleugnete; der nur bei Victors bösen Scherzen kurz zu krampfen anfing. Atlas hatte Angst vor Victor und schämte sich dafür.
Er schnaubte, kniff die Augen zusammen und erwiderte pikiert: »Es wäre ebenso ein Wunder, könntest Du mir zufällig auf diesem gottverdammten Marktplatz in die Arme laufen, ohne direkt klarzustellen, was für ein Mann von Welt Du doch geworden bist.«

Atlas war eine weiße Leinwand, ein Mensch ohne Eigenschaften – Victor ein Gesteinsbrocken, der auf die zertrümmerten Unterschenkel eindrückte und einen am Fortlaufen hinderte.
Das war schon immer so gewesen, auch damals, als sie sich als Schüler kennenlernten.
Victor hatte stets auf Atlas abgefärbt, der alles – jeden Blick und jede Geste – wie ein Putzschwamm aufsog.

Ein Mädchen, vielleicht neunzehn Jahre alt, stapfte, lustlos auf einem Kaugummi herumkauend, durch die beiden schwarz gekleideten Gestalten, sodass sie einen Schritt nach hinten treten mussten. Atlas schaute hektisch hinterher.

Als Kind hatte er stets stumm am Rand gesessen und den Rest der Welt beobachtet, mit einem schmerzhaft stumpfen und doch nachdenklichen Gesichtsausdruck, der seine Lehrer bis zuletzt ratlos zurückließ, ob ihn das nun als besonders begabt oder als besonders beschränkt auswies.
»Hallo, hier bin ich!« – der Blick erneut an Victors spitzer Nase klebend, begann die Welt für einen Augenblick zu zittern.
Beide waren sie Waisenkinder. Atlas sagte stets, er käme in Wahrheit aus dem Wald und Victor scherzte dann, er sei aus dem Himmel hinabgestiegen, um der Menschheit Erlösung zu bringen. Notfalls mit dem Schwert.
»Komm, Du Trauerkloß; ich finde, Du solltest bei einer Tasse Kaffee beteuern, wie sehr ich Dir gefehlt hab.«
Atlas schluckte – vergebens; sein ganzer Mund war speichelleer.
Victor rotierte lachend um sich selbst und setzte seine Spinnenbeine in Bewegung. Kurz drehte er den Kopf nach hinten und zwinkerte Atlas zu. Der trottete wie mechanisch hinterher.
Irgendwo geriet eine Fliege in ein Netz.

Das Café war voll von Tabakqualm. Schemenhaft bewegten sich schöne, große Menschen durch den Dunst. Im Hintergrund Klaviermusik.
Victor setzte sich breitbeinig auf einen Sessel, sein Gegenüber fiel steif auf einen Stuhl.
»Also«, Victors Stimme durchschnitt den Raum, »bist Du momentan verliebt?«
Atlas starrte stumpf durch ihn hindurch.
»Nun schau mich schon nicht an wie einen Fremden, gerade ich hab ja wohl ein Anrecht darauf, zu erfahren, wohin das Herz von meinem Seelenriesen wuchert. Sag, an welchem Ufer schlägst Du gerade Deine Triebe, zartes Pflänzchen?«
Victors Gesicht war zu einer verzerrten Fratze zerlaufen.
Atlas trommelte mit beiden Füßen auf den Boden, »hör mal, Victor, ich weiß wirklich nicht…«, an der Decke kreiste ein Ventilator, die Luft schmeckte säuerlich, »ich weiß wirklich nicht, was Du hier willst, und ehrlich gesagt, würde ich jetzt gerne nach Hause.«
Zwei rote Augen blitzten Atlas böse an.
»Nur zu, ich halte Dich nicht auf, die Zeiten sind vorbei. Du musst selber wissen, was Du willst.« 
»Ich hab Dich geliebt, Victor.«
Die Fliege zuckte verstört mit den Beinen.
Victor schürzte die Lippen, »nun, kein Grund direkt sentimental zu werden: Jetzt bin ich ja wieder da!«
Atlas überlegte, aufzustehen, blieb dann aber sitzen und starrte Victor mit feuchten Rehaugen an. Ganz klein war er geworden, saß winzig auf dem Stuhl herum und griff mit einer Hand die andere. 
Victor schaute zu Atlas hinunter und sprach, langsam und betont, sodass die Worte wie aus Wachs zu ihm hinabtropften: »Ich. Bin. Jetzt. Wieder. Da.«, sein Kopf stieß mittlerweile an die Zimmerdecke, die auseinandergestreckten Arme bildeten einen Horizont.
»Der Abend auf der Aussichtsplattform…«
Victor zischte gereizt: »Ach, Du dumme Gans! Nichts hast Du verstanden!«
Atlas‘ Adern schwollen an. Nicht einen Brief. Nicht einen einzigen Brief hatte er erhalten.
»Ich wusste nicht, ob Du tot bist, Victor.«

Siebzehn Jahre waren sie alt gewesen, als sie auf eine Aussichtsplattform stiegen, von der aus man die rot blinkenden Schornsteine der Industrieanlage und die glühenden Fenster der umliegenden Hochhausbauten sehen konnte, um im Vollmondschein eine Handvoll Tabletten zu schlucken. Sie hatten entschieden, dass sie keine Personen sein wollten, dass das Leben nicht lebenswert sei. Ganz nüchtern hatten sie das – zu zweit und jeder für sich – entschieden.
Victor war am nächsten Morgen verschwunden, Atlas hatten sie den Magen ausgepumpt und ihn für ein paar Wochen weggesperrt. Jahre später las er dann, dass Victor wohl als Fotograf in München lebte.

Atlas hatte niemals Ekel, Abscheu oder Zuneigung für irgendetwas oder irgendwen empfunden. Victor hatte erstmals eine Art von Gier in ihm geweckt.
Als dieser beiläufig bemerkte, dass er der Meinung sei, sie sollten sich das Leben nehmen, gab Atlas keine Widerworte.

Am Ende wurden sie schweigsam. Selbst das Denken stand still. Stumm saßen sie für ein paar Tage beieinander; dann stiegen sie zur Aussichtsplattform auf.
Es hatte gestürmt an dem Abend. Der Himmel war schwarz, bis auf den Vollmond.
Sie hatten sich angelächelt – dann waren sie eingeschlafen.
»Alles gut bei Euch, braucht Ihr noch irgendwas?«, eine Bedienung war zu ihnen an den Tisch getreten und hatte, hektisch auf der Stelle wippend, mit zarter Stimme nachgefragt; ein Gesicht wie eine Spitzmaus und Augen wie Haselnüsse.
»Alles bestens, danke!«, lächelte Victor breit zurück, worauf sie rot angelaufen nickte und eilig davonhuschte. Ein leises Rascheln war zu hören.
Die Fliege machte ein Geräusch wie Starkstrom, der die Leitung spannt.

»Nun, was soll ich sagen, Atlas, mein kaputtes Prinzesschen. Ich denke, ich habe Dich wirklich gemocht, damals. Aber Du solltest aufhören, in der Vergangenheit zu leben. Es ist an der Zeit, zu begreifen, dass es nicht meine Schuld ist, und auch nicht meine Schuld war, dass Du Dich selbst nicht kennst. Wir waren jung, ich fand Dich süß und alles war ein bisschen durchgeknallt. Jetzt sitzen wir hier, Du schaust mich verstört an und ich bin genauso genervt von Dir wie damals. Hör auf, Dich selbst als Anhängsel zu sehen! Es tut mir ja leid, dass es Dir scheinbar schlecht geht, aber wenn Du nicht lernst, loszulassen, dann hat Dein Leben keinen Wert.
Ich will Dir eine Geschichte erzählen: Romulus und Remus saßen einst auf einer Mauer und stritten darum, wer von beiden nun der Gründervater Roms sein sollte. Sie haben sich geliebt, wie Brüder sich eben lieben, und wie auch wir waren sie Männer ohne Geschichte. Nur dass der eine von beiden am Ende klug genug war, den anderen totzuschlagen, sodass eine so prächtige Stadt wie Rom erwachsen konnte. Nun stell Dir bitte einmal vor, die beiden Zankäpfel hätten sich ausgesöhnt. Was denkst Du, wie die Welt dann heute aussähe? Ohne römisches Reich, ohne die Heldentaten der Alten? – Buchdruck, Aufklärung, fliegende Autos, Unsterblichkeit – das wäre alles nichts geworden. Also hör endlich auf, mich anzustarren wie ein Hund und entscheide Dich, Atlas! Du musst Dich entscheiden!
Ich wollte Dir helfen. Meine Tabletten waren wirkungslos. Ich habe vier Dutzend Placebos geschluckt. Wer hätte denn wissen können, dass Du am nächsten Morgen wieder wach wirst, Du seelenloser Klumpen Mensch. Ich wollte Dir die Freiheit geben, erstmals einen eigenen Entschluss – den einzig richtigen für Dich – zu fassen.«

Das Spinnennetz war gerissen. Die Fliege flog verwirrt davon.
Atlas erhob sich. Er blickte stumpf in Victors versteinertes Gesicht.
Dann schwankte er zur Tür und stolperte ins Freie. 

Die Tage werden wieder kürzer

Atlas ist heute traurig gewesen.
Er hat seinen Kopf auf meine Schulter gelegt
und mir ein bisschen von früher erzählt.