Montag, 25. Juni 2018

Jugendschriften: Atlas (2013)

Hände, gewaschen in Keuschheit.
Dunkelschwarze Schuld auf ausgedörrten Schultern.
Kreidebleiche Kussmünder, gespaltene Zungen,
zermalmt von splittrig gelben Zähnen.
Ihr Gewissen verändert die Menschen –
ich kann es fühlen.

I. Atlas träumt
Atlas dreht sich in seinem Schreibtischstuhl bedächtig um die eigene Achse und lässt den Blick durch das Zimmer schweifen. Schwelgend in der jugendlichen Phantasie, Held eines schlechten Films zu sein: Sodass der Rest der Welt durch seine Augen schaut, mit ihm sein Dasein denkt. Und unweigerlich sieht er sich als Kranken, der sich selbst zu heilen sucht. –
Nichts als eine Ratte im Versuchslabor Menschheit, die sich unerwartet auf zwei Beine stellt, einen Kittel überstreift und bedeutungsschwanger durch den Käfig schreitet. Um diesen stehen derweil zehn alte graue Männer und machen sich Notizen. Bis ein aus einem Lautsprecher dröhnender Signalton sie dazu veranlasst, einen Schalter umzulegen, der den Käfig unter Starkstrom setzt. Die megalomane Ratte zuckt schockiert, taumelt kurz und fällt dann stumpf zu Boden. Händeschütteln, energisches Kopfnicken, die Forscher verlassen fröhlich den Raum.
Indes sitzt Atlas, noch immer regungslos, auf seinem Stuhl und kontempliert den Wunsch, seinen rotweinsauren Magen, samt dessen ganzem Inhalt auf die staubigen Holzdielen zu erbrechen, um auf ewig in die wohlig warme Suppe einzutauchen und der Welt endgültig Lebewohl zu sagen.

II. Atlas wird müde
Mittlerweile war es Nacht geworden. In der Zimmerecke zuckte nur noch müde die Flamme einer langsam ersterbenden Kerze. Atlas war zufrieden mit sich selbst. Zwar noch nicht bereit, den wundgereizten Verstand gegen nervösen Halbschlaf einzutauschen, aber dennoch angenehm ausgelaugt. Als an sich regungsloses Wesen genoss er das so seltene Gefühl von ehrlicher Erschöpftheit.
Ein alter Freund betrat den Raum und bei erneutem Wein vergaß man für einen Augenblick den kalten Schnee, der, direkt vor dem Fenster ein unendliches Weiß bildend, Hügel und Felder bedeckte – und verschmolz zu einer innigen Blase der Glückseligkeit. Die dann doch allzu bald ihr Ende fand. Sodass Atlas, mit gesenktem Haupt, an der schmalen Schneise zwischen Langeweile und Frustration herumflanierte. Bis er sich endgültig eingestand, dass es vorerst nichts zu tun gab, und dass auch das Nichtstun zu nichts führen würde. Er wurde schlichtweg müde.

III. Atlas und das Denken
Atlas fragt sich, nachts in seinem Zimmer liegend, ob er das Gefühl, jemals jemanden geliebt zu haben, bloß verdrängt, vergessen, oder schlichtweg nie erlebt hat.
Am nächsten Morgen, in der Dusche, muss er lachen. Denn die genauso illegitime wie unvermeidliche Sisyphusfrage unsres Daseins besteht nun einmal darin, unabdingbar zu versuchen zu entschlüsseln, was uns irgendwie geschieht: Denken ist grundsätzlich Nostalgie.

IV. Atlas steht auf
Atlas lag erneut gelangweilt in seinem Bett herum. Die Vergangenheit hatte ihn abstumpfen-, das heißt unempfänglich für die Gegenwart und ignorant in Hinblick auf die Zukunft werden lassen: Seine Trauer überwog die Angst. Und so ergab es sich, dass er an einem lauen Septembernachmittag, einfach regungslos daliegend – nur nebenbei das Geschrei der Vögel registrierend – durch das verschmierte Fenster hindurch und direkt in den blauen Sommerhimmel starrte.
Irgendwie komisch, dachte er, wie das Gefühl von Fremdheit in mir wächst.
Überhaupt war dies ein äußert seltsamer Sommer gewesen: Ereignislosigkeit machte sich in seinem sonst so wirren Leben breit. Ein Vorgeschmack von Glücklichsein durchzog, in Form von Apathie, unrettbar alle Glieder. Sodass er merkte, dass es an der Zeit war sich vom Bett zu trennen. –
Und so trat Atlas in die Welt.

Sonntag, 24. Juni 2018

Der längste Tag des Jahres schaut zum Fenster rein

Von Hölzchen auf Stöckchen,
immer tiefer in die Nacht hinein,
bis morgens früh die Vögel singen:
Nur noch eine Zigarette,
nur noch dieses eine Bier –
dann kriech ich meinetwegen blutbefleckt
in Richtung Bett
und hör mir selbst beim Denken zu.

Der Versuch diese Momentaufnahme
so gut es geht in Text zu pressen –
ein alter, lauer Witz.
Und alles, was ich weiß, ist,
dass die Worte – wie von selbst –
aus meinem wundgereizten Hirn und
auf die schrecklich leeren Seiten schwappen.

Dienstag, 12. Juni 2018

Wetterleuchten und Einsamkeit

Die ehemalige Hauptstadt hält, eingehüllt in dichte Schwüle, alle Menschen wie im Fiebertraum gefangen. Derweil die Hitze alles Denken lähmt und schwer auf jeder Regung liegt. Sodass die Leute sich verdächtig freundlich geben, dabei in Wahrheit ungemein dünnhäutig und gereizt ihr Dasein fristen.
Und da ist dieses Mädchen, das ich immer sehe, mit dem ich irgendwann was hatte. Das ich versehentlich verlernt zu grüßen habe, und das mich seitdem anklagend ansieht, wenn wir – uns auf Grund einer unangenehmen Verkettung absurder Ereignisse ignorierend – aneinander vorbeigehen. In dieser furchtbar stickigen Stadt, deren weltumspann'des Grau orgiastisch pulsiert, sich trostlos in sich selbst verliert.

Einstweilen scheint es, als senkte sich eine milchglasfarbene Kuppel über die Stadt, und all die unbescholt'nen Bürger erstickten nach und nach – während sukzessive das Bewusstsein dieses Umstands steigt: Manch einer hatte es sofort durchschaut, ein anderer es gar ersehnt und ein dritter wird es wohl, bis zu seinem allerletzten Atemzug, in Gänze von sich weisen wollen.
Die Stadt wird zunehmend Meer: Schweiß sondert sich vom Körper ab, vermischt sich mit Luftfeuchtigkeit und kummervollen Tränen. Und eben erst, so sagt man sich, rutschte ein Mann mit Hut unbeholfen aus, in einer der nach und nach entstehenden Pfützen, Bäche, Seen, gefüllt mit Kondensat und Körperflüssigkeit, und brach sich leise fluchend beide Beine.

Man kann die ganze Welt am Körper spüren: Enger und enger, mit jedem Tag, wie in einer kleinen Fabel, an deren Ende jemand stirbt.
Indes hat Atlas keine andern Sorgen, als sich Nacht für Nacht halb tot zu trinken und in goldenes Laternenlicht zu starr'n. 

Ein Gedicht, das einer schrieb, als er in eine Laterne starrte

So entfremdet von der Welt, so entfremdet von mir selbst,
selbst meine eine große Liebe –
der künstlich aufgebauschte Rausch der Nacht –
spuckt mich angewidert wieder aus.

Durch das unbarmherzig andauernde Unwetter
mit anderen Verwirrten in irgendeinen Hauseingang gepfercht,
während der Regen den Dreck aus meiner Seele,
den Dreck aus allen Straßen spült.
Am Himmel Wetterleuchten – im Hirn die Einsamkeit.