Montag, 17. Dezember 2018

Ein Mensch findet sich selbst

Vor mir der Holzschreibtisch, dahinter das Gefühl, ein verstimmtes Instrument, ein abgeblühtes Lastentier zu sein. Stumm steht es da und starrt mich an, dazu ein seltsam schwerer Druck auf nackter bleicher Brust. Der Körper tief im Stuhl versunken, fast wie aus Wachs geformt in Richtung Dielenboden fließend. Alles voll von Rotweinflecken.
Eine Erinnerung klopft hektisch an die Zimmertür, die Gewissheit, kein Teil der Wirklichkeit zu sein durchzieht den Raum und plötzlich wird mir klar: Immer war es so, dass die Menschen, die mich ungefragt ins stechende Scheinen ihrer Betrachtung schubsten, gierig Anteil nehmen, vielmehr: unbeschränkt Besitz ergreifen wollten, von dem Guten und Wahren und Schönen, das sie, aus einer Unkenntnis der Welt, einer Verachtung ihrer selbst heraus doch letztlich erst in mich hineingeworfen hatten. Meine Unfähigkeit, Person zu sein erstrahlt in unbeflecktem Weiß, provoziert seit jeher fremden Pinselstrich.
Nie hab ich mich selbst gefühlt, stets nur ein austauschbares Gegenüber wahrgenommen, das, warum auch immer, in meinen beiden blauen Augen irgendwas zu sehen und irgendwas zu finden glaubte – ganz so, als wären die im Schaufenster drapierte Ware: Nett anzusehen, bei Bedarf vielleicht recht nützlich.
Nie wusste ich, was ich selbst will, geschweige denn, wer ich selbst bin – alles, was da jemals war, war immer nur der unbeschwerte Umgang aller andern mit dem Vakuum in meiner Brust.

Betrübt ob dieses Umstands, schweift der Versuch, trotz allem Mensch zu bleiben schwerfällig am Ziel vorbei, steigt nach und nach das Abendlicht hinauf, und unbestimmte Zeit verstreicht. Bis der zerzauste Blick – später, viel später dann – durch Fensterglas hindurch, ein trübes Dunkelblau, den letzten Atemzug des Tages streift. Dann: Dunkelheit.

Die Spätherbstnacht tropft auf die Stadt, ihr Herz aus aufgeputschtem Fieberwahn pulsiert in Peitschenhieb getrieb'nem Takt, derweil ein zarter Sichelmond vergrämt im Wolkenmeer ertrinkt. Personen werden Menschenströme, Nachtbuskaskaden prasseln ungewiss dahin, ein Straßenbahnwaggon zerläuft in dichtem Schwarz. Stirnaderberge suchen Streit, ein viel zu junges, dünnes Ding in kurzem Abendkleid versinkt verschnupft im Wegesrand, indes schnapsgetränkte Körpermassen unbeirrt vorbeiflanieren. Ein junger Mann, zu freundlich, für das Leben, das er lebt, fragt, entspannt im Rollstuhl hängend, vorsichtig nach Geld, lächelt herzgebrochen die Passanten an. Gehetzte Blicke treffen Hauseingänge, blutrote Augenränder blitzen auf, die Welt umhüllt von Tabakqualm.

Schlagartig zieht alles sich im gleißenden Schein des Wachseins zusammen, konzentriert auf diesen einen Punkt: Vor mir der Holzschreibtisch, dahinter das Nichts. Nur, plötzlich liegt da dieser Stift, daneben ein gekrakelter Text, als kleiner Beweis meines sonst so bedeutungslosen Daseins. Und nachdem ich diesen letzten Satz gesprochen habe, kurz, besoffen vor Aufmerksamkeit, ins grelle Scheinwerferlicht starre – da weiß ich, für den Augenblick zumindest, dass ich doch wirklich da bin.

Mittwoch, 7. November 2018

Die Frage nach der Vielfalt

Was bedeutet Vielfalt?
In Anbetracht sowohl meiner eigenen Geschichte, als auch der Beschaffenheit der Gesellschaft, würde ich hierfür gerne auf den anfangs vielleicht noch äußerst abstrakt wirkenden Begriff des Menschseins eingehen.

Was bedeutet also dieser Begriff des Menschseins, was hat das Ganze mit mir und vor allem mit der Gesellschaft zu tun?
Nun, es ist so, dass ich in grauer Vorzeit ein fröhliches Wesen gewesen sein muss, zumindest zeugen einstweilen verstreute Kinderfotos von einem zeitweiligen Lächeln in meinem heute grau und unversöhnlich der Wirklichkeit gegenüberstehenden Gesicht.

Was ist also in der Zwischenzeit mit mir passiert?
Ganz einfach: Ich bin an den Umständen, Widersprüchen, in die ich mich hineingeworfen fand, zerbrochen. Heillos zerbrochen. In ein wildes Scherbenmeer, an dem sich jeder, der der gleichermaßen sinnlosen wie wahnwitzigen Idee verfiele, es erneut zusammenfügen zu wollen, seine beiden bleichen Hände blutig schnitte. Ich spreche hierbei aus Erfahrung.

Das heißt, die Absenz von Menschlichkeit, respektive: der Mangel an Vielfalt, führte dazu, dass ich mich anpassen musste, und »anpassen« meint hier verbiegen. Die Welt als meine Sollbruchstelle.
Konkreter: Der Personenkreis, der mich, wenn man denn so will, großgezogen hat, zeigte sich durchgehend überfordert angesichts meiner ursprünglich allzu fröhlichen und ob dessen ungebremst redseligen Natur. Als ich als Kind noch ganz ich selbst war, wusste ich noch nicht, wie man den Mund hält.
Die Mehrzahl der Fragmente, Splitter, meiner frühen Geschichte, setzt sich zusammen aus Erinnerungen an Erwachsene, die mir nach einer meiner viel zu vielen viel zu wirren Fantasiegeschichten sagten – sie hätten mir nicht zugehört. Erwachsene, die mir nicht mehr zuhören konnten, weil sie als eindimensionale Menschen ihre Vielfalt längst verloren hatten, das heißt, ihre Fähigkeit, die unzähligen, teils anstrengenden Facetten der Menschlichkeit zu sehen und damit auch die mehr als ätzenden Aspekte des Menschseins zu ertragen.
Und so tat ich's ihnen gleich und wurde stumm, zerhackte fein säuberlich das ein letztes Mal kleinlaut vor sich hin wimmernde innere Kind mit der die gesamte Wirklichkeit zerschneidenden Klinge der eigens hierfür herangezüchteten Axt im Kopf.
Ich bin ein guter Denker und ein schlechter Mensch geworden. Glückwunsch, zu gar nichts. Was indes vielleicht hilft, die Gestelztheit dieses Textes zu verstehen, ich bitte hierfür um Verzeihung – ich bin eine Funktion geworden, eine Gleichung, die sich glatt dem starren Rahmen der sogenannten Wirklichkeit, die uns umgibt, anschmiegt.

Vielfalt, Menschlichkeit, bedeutet daher, in Anbetracht dessen, was wir bisher erarbeitet haben:
Trotz aller Widersprüche niemals den Bezug zum eigenen Empfinden aufzuopfern;
den Schmerz des Andersseins als die Andern bis zum Ende auszuhalten
und voll übersteigertem Stolz ein Lächeln in die Welt zu tragen.

Und damit sind wir unmittelbar bei der Gesellschaft angelangt:
Wie steht es in dieser derzeit um den Bezug zum eigenen Empfinden,
das Ertragen des Andersseins
und die Möglichkeit, ein ehrliches Lächeln im Gesicht zu haben?

Wisst Ihr was, der Text ist viel zu abstrakt geworden.
Echte Vielfalt muss immer auch spontan sein.
Beantwortet die Frage einfach für Euch selbst.

Samstag, 20. Oktober 2018

Baumstämme im Schnee

Der Samstagabend zerläuft im Herbstbeginn. Mein bleicher Körper wächst am Laken fest und ein letzter Rest verirrter Sommerwärme, der laut Kalender längst ins Nichts gehört, steht stur und stumm im kleinen Raum herum­­­. Einsamkeit streckt zaghaft ihre Fühler aus, kratzt nervös die gräulich weiße Wand entlang. Leere Weinflaschen, aus einer meterdicken Staubschicht Richtung Zimmerdecke ragend, erscheinen als Glasturmlabyrinth, sperren alles Denken ein. Ich liege ruhig bei mir und atme langsam vor mich hin.
Straft mich die Schlaflosigkeit nun mit ewig gleichem Krankenbett?

Nein, denn manch einer wäre vielleicht versucht, dieses Trauerspiel als Moment der Klarheit zu bezeichnen, in dem die ganze Welt sich kurz zusammenzieht, nur einen Atemzug lang greifbar scheint. Einzig möglich durch den ausgeleerten Geist, die abgeblühten Trümmerfelder. Denn erst hier, im Wirklich-Garnichts-Denken-Können, zeigt sich die Fähigkeit, stattdessen einfach hin-, das heißt: Gänzlich ohne Beiwerk der eigenen Besonderheit, die Dinge, wie sie sind zu sehen.

Doch sieh, selbst das ist nur ein Schein. Denn im scheinbar bloßen Hinsehen, verliert der Sehende unweigerlich sich Selbst, kommt das zufällig Gesehene zu Fall, endet grundlos in der Leere. Und erst jetzt, wo die Katernarben dürftig überschminkt sind, ich erneut im Alltag stehe, ergeben diese Zeilen Sinn. Das heißt, erst jetzt, wo Du das liest, gewinnt der Augenblick ein Quäntchen Wert.

Daher bedenke: So schön das Dornenkronenkönigreich gut versteckt im Innern scheint, so sehr bedarf der Mensch des Andern, ist ganz allein im Bett Rumliegen auf Dauer nichts als einsam Sterben.

Samstag, 1. September 2018

Sialia

Ein kurzer Anflug von Geborgenheit, 
wenn ich im Morgengrauen heimwärts krieche,
derweil Aurora traurig in den Himmel blutet.

Mittwoch, 22. August 2018

Psychogramm eines Grenzgängers

Ich finde mich wieder im immergleichen Dauerrausch, von dem das Angetrunkensein stets ist wie ein Youtube-Thumbnail, das nicht hält, was es verspricht.

Kein Mensch der Welt versteht mich mehr: Mitten in der Nacht, oder mittlerweile auch schon mittags, mit so schrecklich schwerer Zunge, die wie Blei im Mundraum liegt.
Dachte ich doch eigentlich, die Strategie geht diesmal auf; der Grund, aus dem ich ursprünglich zu schreiben anfing. Doch der Versuch, durch Schrift Person zu werden, beißt sich selbst in seinen Schwanz: Denn wer aus schierer Weltfremdheit zu weit raus schwimmt in den Geist, der kommt selten weniger merkwürdig zurück, als er es am Anfang schon gewesen ist.
Und so sitzen Nietzsche, Kafka und Hölderlin, als Sirenen des Irrsinns, nackt und besoffen auf der Sandbank meiner Seele und werfen mir erregte Küsse zu, jedes Mal, wenn ich so hektisch wie vergeblich meinen sehnsüchtigen Blick abwendend versuche an den drei vorbeizurudern, indes mein Über-Ich mir panisch flehend dicke Stücke Wachs in die gespitzten Ohren stopft.
Auf dass ich noch ein bisschen länger bleibe, bloß noch ein Stückchen näher komme, singen sie ganz krumm und schief im Hintergrund.

Abseits dieses Karnevals bin ich auch nur irgendein Idiot, aus irgendeiner kleinen Stadt, in dieser Bundesrepublik, der, warum auch immer, die Last der Welt auf seinen Schultern trägt, das heißt, einen gewissen Hang zum Drama hat, sich, um sein kleines Narrativ am Leben zu erhalten, stets unterschätzt und missverstanden geben muss.

Ein Narzisst also, der atlasgleich unter dem aufgebauschten Selbstmitleid laut keucht und stöhnt und schreit, wenn er den ganzen Tag – die ganze Nacht – heroisch kämpft: Gegen den Schraubverschluss vom Schnaps; verschütteten Drehtabak und die bunt blitzenden Gebirgsketten wahnwitziger Werbebanner irgendwelcher Pornoseiten.
Der sich dabei aber schockierend ernsthaft fragt, wieso die Depression nicht besser wird, während im jede Nacht grotesk knackend die Stille zerschneidenden Kühlschrank nichts als eine alte Packung Brot und ein Glas Orangenmarmelade (die so seltsam bitter schmeckt und deren Schalenstücke stets an Wurmbefall erinnern) ihr ungewolltes Dasein fristen.
Im Kühlschrank – dessen Knacken mich Nacht für Nacht daran erinnert, dass seine Tür noch offen stehen könnte; wovon ich mich, immer wieder, unbegründet, ködern lasse; was ich selbstverständlich jedoch erst einsehe, nachdem ich mich unter größten Mühen durch den wuchernd expandierenden Glaspfandwald polnischer Bisongraswodka- und mich mahnend anstarrender grellgelber Frühstückskornflaschen hindurchgekämpft habe.

Sprich, alles, was ich bin, ist ein riesen Zinnober um das Nichts, ein lebenslanger Tanz ums wundgereizte Ich: Meine Achillesferse ein ein-Meter-dreiundachtzig großes halbes Hemd, das sich im Spiegel stundenlang entgeistert selbst anstarrt und eher selten vor die Türe geht.
Woran bisher kein Text, kein Zaubergift im Blutkreislauf und letztlich auch kein Mensch zu rütteln es vermag: Mit Mitte zwanzig bloß ein lauer Witz, der viel zu gut begriffen hat, wie man ein bisschen durch den Wind Sein auf Abendlänge aufbläst.
Und prasselnd wie ein Wasserfall schwappt aus meinem Mund ein Meer aus Schwachsinn: So wie damals, als beklopptes Kind, das noch nicht wusste, wie man schweigt und das der Menschheit stets vermitteln wollte, wie die Welt aus seiner wirren Sicht so scheint.

Heute: Eine Grimasse im Scheinwerferlicht, eine öffentliche Charakterstudie, deren vorläufiges Endergebnis auch nicht sagen kann, ob es in Wahrheit nicht Resignation bedeutet, einzusehen, was für eine Kränkung Menschsein nun mal darstellt, wie lachhaft jeder Lebenslauf und wie vergänglich alles Schöne ist –
und genau das dann als Humor zu neh’m.

Dienstag, 14. August 2018

Meerträubelgewächse

Meine Eisprinzessin hockt im Kühlschrank und lächelt dunkel vor sich hin.

Samstag, 11. August 2018

Der Unsichtbare Apfel, S.57

,,[Atlas] wünschte sich, dass jemand kommen würde, um ihm eine Ohrfeige zu geben, aber es kam niemand und er musste zusehen, wie er sich selbst verloren ging. Etwas hatte angefangen, sich unaufhaltsam zu verschieben, und als [Atlas] 23 wurde, kam ihm der Bezug zu seiner bisherigen Realität abhanden.''

Freitag, 10. August 2018

Konsequenz ist Freiheit

Gepeinigt von der Sommerhitze durch irgendwelche Kleinstadtstraßen wankend,
mit Fremden und Freunden und Zaubergift im Blutkreislauf,
wird Dir plötzlich klar: Es könnte alles so viel schöner sein.

Donnerstag, 9. August 2018

Die sogenannte Heißzeit

Donnerstagnachmittag: Kurz einen Kaffee trinken gehen artet wieder aus.
Zuhause in der Geisterwelt, nur der Begriff scheint noch als Wirklichkeit.
Du läufst an mir vorbei. Ich zöger kurz. Und nun?

Montag, 25. Juni 2018

Jugendschriften: Atlas (2013)

Hände, gewaschen in Keuschheit.
Dunkelschwarze Schuld auf ausgedörrten Schultern.
Kreidebleiche Kussmünder, gespaltene Zungen,
zermalmt von splittrig gelben Zähnen.
Ihr Gewissen verändert die Menschen –
ich kann es fühlen.

I. Atlas träumt
Atlas dreht sich in seinem Schreibtischstuhl bedächtig um die eigene Achse und lässt den Blick durch das Zimmer schweifen. Schwelgend in der jugendlichen Phantasie, Held eines schlechten Films zu sein: Sodass der Rest der Welt durch seine Augen schaut, mit ihm sein Dasein denkt. Und unweigerlich sieht er sich als Kranken, der sich selbst zu heilen sucht. –
Nichts als eine Ratte im Versuchslabor Menschheit, die sich unerwartet auf zwei Beine stellt, einen Kittel überstreift und bedeutungsschwanger durch den Käfig schreitet. Um diesen stehen derweil zehn alte graue Männer und machen sich Notizen. Bis ein aus einem Lautsprecher dröhnender Signalton sie dazu veranlasst, einen Schalter umzulegen, der den Käfig unter Starkstrom setzt. Die megalomane Ratte zuckt schockiert, taumelt kurz und fällt dann stumpf zu Boden. Händeschütteln, energisches Kopfnicken, die Forscher verlassen fröhlich den Raum.
Indes sitzt Atlas, noch immer regungslos, auf seinem Stuhl und kontempliert den Wunsch, seinen rotweinsauren Magen, samt dessen ganzem Inhalt auf die staubigen Holzdielen zu erbrechen, um auf ewig in die wohlig warme Suppe einzutauchen und der Welt endgültig Lebewohl zu sagen.

II. Atlas wird müde
Mittlerweile war es Nacht geworden. In der Zimmerecke zuckte nur noch müde die Flamme einer langsam ersterbenden Kerze. Atlas war zufrieden mit sich selbst. Zwar noch nicht bereit, den wundgereizten Verstand gegen nervösen Halbschlaf einzutauschen, aber dennoch angenehm ausgelaugt. Als an sich regungsloses Wesen genoss er das so seltene Gefühl von ehrlicher Erschöpftheit.
Ein alter Freund betrat den Raum und bei erneutem Wein vergaß man für einen Augenblick den kalten Schnee, der, direkt vor dem Fenster ein unendliches Weiß bildend, Hügel und Felder bedeckte – und verschmolz zu einer innigen Blase der Glückseligkeit. Die dann doch allzu bald ihr Ende fand. Sodass Atlas, mit gesenktem Haupt, an der schmalen Schneise zwischen Langeweile und Frustration herumflanierte. Bis er sich endgültig eingestand, dass es vorerst nichts zu tun gab, und dass auch das Nichtstun zu nichts führen würde. Er wurde schlichtweg müde.

III. Atlas und das Denken
Atlas fragt sich, nachts in seinem Zimmer liegend, ob er das Gefühl, jemals jemanden geliebt zu haben, bloß verdrängt, vergessen, oder schlichtweg nie erlebt hat.
Am nächsten Morgen, in der Dusche, muss er lachen. Denn die genauso illegitime wie unvermeidliche Sisyphusfrage unsres Daseins besteht nun einmal darin, unabdingbar zu versuchen zu entschlüsseln, was uns irgendwie geschieht: Denken ist grundsätzlich Nostalgie.

IV. Atlas steht auf
Atlas lag erneut gelangweilt in seinem Bett herum. Die Vergangenheit hatte ihn abstumpfen-, das heißt unempfänglich für die Gegenwart und ignorant in Hinblick auf die Zukunft werden lassen: Seine Trauer überwog die Angst. Und so ergab es sich, dass er an einem lauen Septembernachmittag, einfach regungslos daliegend – nur nebenbei das Geschrei der Vögel registrierend – durch das verschmierte Fenster hindurch und direkt in den blauen Sommerhimmel starrte.
Irgendwie komisch, dachte er, wie das Gefühl von Fremdheit in mir wächst.
Überhaupt war dies ein äußert seltsamer Sommer gewesen: Ereignislosigkeit machte sich in seinem sonst so wirren Leben breit. Ein Vorgeschmack von Glücklichsein durchzog, in Form von Apathie, unrettbar alle Glieder. Sodass er merkte, dass es an der Zeit war sich vom Bett zu trennen. –
Und so trat Atlas in die Welt.

Sonntag, 24. Juni 2018

Der längste Tag des Jahres schaut zum Fenster rein

Von Hölzchen auf Stöckchen,
immer tiefer in die Nacht hinein,
bis morgens früh die Vögel singen:
Nur noch eine Zigarette,
nur noch dieses eine Bier –
dann kriech ich meinetwegen blutbefleckt
in Richtung Bett
und hör mir selbst beim Denken zu.

Der Versuch diese Momentaufnahme
so gut es geht in Text zu pressen –
ein alter, lauer Witz.
Und alles, was ich weiß, ist,
dass die Worte – wie von selbst –
aus meinem wundgereizten Hirn und
auf die schrecklich leeren Seiten schwappen.

Dienstag, 12. Juni 2018

Wetterleuchten und Einsamkeit

Die ehemalige Hauptstadt hält, eingehüllt in dichte Schwüle, alle Menschen wie im Fiebertraum gefangen. Derweil die Hitze alles Denken lähmt und schwer auf jeder Regung liegt. Sodass die Leute sich verdächtig freundlich geben, dabei in Wahrheit ungemein dünnhäutig und gereizt ihr Dasein fristen.
Und da ist dieses Mädchen, das ich immer sehe, mit dem ich irgendwann was hatte. Das ich versehentlich verlernt zu grüßen habe, und das mich seitdem anklagend ansieht, wenn wir – uns auf Grund einer unangenehmen Verkettung absurder Ereignisse ignorierend – aneinander vorbeigehen. In dieser furchtbar stickigen Stadt, deren weltumspann'des Grau orgiastisch pulsiert, sich trostlos in sich selbst verliert.

Einstweilen scheint es, als senkte sich eine milchglasfarbene Kuppel über die Stadt, und all die unbescholt'nen Bürger erstickten nach und nach – während sukzessive das Bewusstsein dieses Umstands steigt: Manch einer hatte es sofort durchschaut, ein anderer es gar ersehnt und ein dritter wird es wohl, bis zu seinem allerletzten Atemzug, in Gänze von sich weisen wollen.
Die Stadt wird zunehmend Meer: Schweiß sondert sich vom Körper ab, vermischt sich mit Luftfeuchtigkeit und kummervollen Tränen. Und eben erst, so sagt man sich, rutschte ein Mann mit Hut unbeholfen aus, in einer der nach und nach entstehenden Pfützen, Bäche, Seen, gefüllt mit Kondensat und Körperflüssigkeit, und brach sich leise fluchend beide Beine.

Man kann die ganze Welt am Körper spüren: Enger und enger, mit jedem Tag, wie in einer kleinen Fabel, an deren Ende jemand stirbt.
Indes hat Atlas keine andern Sorgen, als sich Nacht für Nacht halb tot zu trinken und in goldenes Laternenlicht zu starr'n. 

Ein Gedicht, das einer schrieb, als er in eine Laterne starrte

So entfremdet von der Welt, so entfremdet von mir selbst,
selbst meine eine große Liebe –
der künstlich aufgebauschte Rausch der Nacht –
spuckt mich angewidert wieder aus.

Durch das unbarmherzig andauernde Unwetter
mit anderen Verwirrten in irgendeinen Hauseingang gepfercht,
während der Regen den Dreck aus meiner Seele,
den Dreck aus allen Straßen spült.
Am Himmel Wetterleuchten – im Hirn die Einsamkeit.

Mittwoch, 30. Mai 2018

02:07

Der Vollmond starrt mich gierig an,
über der Stadt hängt tief ein Wolkenschleier
und Atlas trägt die Welt auf seinen Schultern.

Dienstag, 22. Mai 2018

Renn ruhig schneller

Das Gefühl von Liebe mag dir als Gefahr,
als Ende deines Selbst,
bestenfalls als Kompliment erscheinen;
was in Wahrheit einfach davon abhängt, wo du gerade stehst,
und noch viel mehr mit wem.

Doch, was niemand hier vergessen sollte, ist,
dass der Tod nie eine Antwort, noch viel weniger ein Ausweg;
das Leben selbst – trotz allem – lebenswert verbleibt:
Also halte deine kleine kranke Seele,
trotz jedem ach so schweren Herzensbruch,
zumindest frei vom Elend der Vergangenheit.

Montag, 21. Mai 2018

Selbstreflexive Rahmenbedingungen als Treppenwitz der Wirklichkeit

Danke Edgar, dass Du mir beigebracht hast, dass es manchmal Rahmenbedingungen gibt, die man nicht ändern kann und dass man gut daran tut, diese als solche zu akzeptieren; als wir an irgendeinem Abend oder Morgen in Schmerbroich auf dem Parkplatz standen, den es mittlerweile nicht mehr gibt und ich und mein Bruder nach Hause mussten, weil wir beide noch minderjährig waren und wir darüber sprachen, dass wir trotz allem – wenn die ganze schlimme Zeit irgendwann vorbei sein sollte – ungebrochen Freunde bleiben. –
Begann ich, als ich im Zug von Köln nach Hause saß, in mein Textbuch einzutragen. Bis mein Stift den Geist aufgab. Kurz war ich wütend, dann musste ich lachen. Ich hoffe, es geht Dir gut.

Hanami III

Schlaflos durch die Straßen Bonns am schwanken –
alles voll von Kirschblüten –
begann Atlas zu atmen, und wuchs auf Weltengröße an.

Donnerstag, 3. Mai 2018

Zwei Menschen

Ich bin aus dem Heimatdorf nach Bonn gezogen. Bin, wenn man so will, der Stimme der Vernunft gefolgt, um – statt in verrauchten Kellerzimmern oder völlig breit, auf irgendwelchen Bänken – im Geist selbst zu versinken: Das Philo-Institut als Therapeutencouchersatz.
Ganz einfach, weil ich weiß wie sich Gottverlassen-, Ganzalleinsein anfühlt: Eine Kindheit, festgeklebt im Wohnzimmer, eingehüllt in angebranntes Fertigdosenessen und sediert vom Free-TV verbracht. Und bis heute fühlen sich die immer gleichen Werbeclips irgendwie realer an als der ganze Rest der sogenannten Wirklichkeit. Nur dieses eine, alles usurpierende, mich komplett fragmentierende Gefühl, das ist geblieben: Völlig in mir selbst versunken, Dornenkronenkönig meiner kleinen kranken Welt.
Und auch wenn ich nach außen hin, das wirre Innere verleugnend, mittlerweile wie ein ruhiges Wasser wirke – zuweilen sogar ehrlich lache – bleibe ich, vom Wesen her, zumindest dieses Leben lang prekär. Ein bloßes Partikel der Menge an kaputten, verwahrlosten Herzen, in denen Nacht für Nacht der Takt der Stadt pulsiert und pocht und zuckt, bis alles drückt und zerrt und zum Schreiben oder Saufen oder beidem zwingt. Der Kopf zum Bersten voll.
Und dennoch ist mir hier, in der ehemaligen Hauptstadt, wider Erwarten gleich ein ganzes Dutzend Anderer begegnet, an denen ich gewachsen bin und die mich, warum auch immer, akzeptieren, so gut es eben geht und sich nur manchmal, still für sich, denken, dass das alles schon sehr wirr wirkt.

Und ich kenne da diesen Typen, der es ein wenig schwerer, der, in dieser Stadt, nicht ganz so viel Glück wie ich, vielleicht, gefunden hat. Der mich am Bahnhof nach Geld fragte, dabei so herzzerreißend freundlich, kaum älter als ich selbst war. Wir sind dann ins Gespräch gekommen: über das Leben in Bonn – die Menschen – die Liebe.
Und ich kenne da diesen Typen, der dann irgendwann in meiner Bahnhaltestelle gepennt hat. Und wenn ich mitten in der Nacht oder morgens früh vom Feiern heim kam, dann haben wir von meinen Kippen geraucht und dagesessen; in der Winterkälte eingesunken, eng von dichtem Qualm umschlossen: Zwei Menschen, grundverschieden, doch letztlich beinah beieinander: Zwei Bonner bei Nacht, die einfach irgendwie ein wenig eigen sind. Und so vergingen Wochen nächtlicher Gespräche.
Bis ihm beide Beine anfingen wegzufaulen und er erst am humpeln und dann lange weg war. Sodass ich mir schon Sorgen machte, um diesen furchtbar netten Typen, der so zart wirkt wie ich selbst und dabei doch eigentlich ganz unzerstörbar.
Dachte ich zumindest, still für mich, wenn ich nachts in meinem sich’ren Haus und unter meiner warmen Decke lag.
Und ich kenne da diesen Typen, der dann irgendwann wieder am Bahnhof rumhing, verändert, verwirrt, plötzlich auf Hilfe angewiesen.

Und heute – nachdem der Frühling kam und mit seinem alles durchziehenden, pinkfarbenen Kirschblütengewitter ungefragt die Innenstadt geflutet hat – sitzt er wieder, neben Menschen in kurzen Hosen, die Eis essend, Sonnenbrillen tragend oder gut gelaunt, gut gekühlte Biere trinkend durch die Gegend schlendern, in derselben schmalen Gasse, in der wir zum ersten Mal geredet, uns irgendwie, ganz vielleicht, ein klein wenig kennengelernt haben. Lächelt freundlich, fast wie früher, von seinem Rollstuhl aus in meine Richtung.

Und manch einer findet in der Stadt sein Glück – der andere verliert hier beinah beide Beine.
Jeder für sich so unerträglich einsam im eigenen Kopf. Nur, für den andern, für den hat es unendlich viel Wert und mehr Bedeutung als man sonst wo findet, vielleicht zumindest ein paar Cent und ein paar nette Worte anerkannt zu kriegen.

Dienstag, 10. April 2018

Wir sind (klassenlos)

Atlas Stigma brennt ihm in den Händen,
ist mit der Zeit zu seinem Fleisch und
Blut geworden. –
Der von Anfang an Verstoßene.

Die Straßenbahn kriecht durch die Stadt,
in der der Frühling hektisch tobt,
Sonnenstrahlen fallen durch die Fenster,
bedecken Wachsmaskengesichter:
Alles flackert rot und weiß und schwarz und schmiert,
bunt blinkend, blitzend, im Augenblick
verschwindend, allzu fieberhaft verträumte Bilder
auf die Leinwand dieses Nachmittags.

Und plötzlich platzt sein Wolkenschloss,
sodass er – aus wirren Phantasien fallend –
ungefragt und unbeholfen
Bestandteil dieser Szene wird,
nackt, gerupft und glitschig auf den
dreckverschmierten Boden schmilzt.

Der Rest der Welt indes läuft ungerührt
in Richtung immergleichem Nichts,
alles äußere vernichtend,
als die Maschine, die er ist.
Und so zeigen sich die Blicke –
wie auf Webteppichen fließend –
tiefe Furchen in die Welt reinschneiden:
Das unverwandte Starren, mit dem sie ihn betrachten,
seitdem sein kranker Geist sich dreht.

Und Atlas badet in dem Augenmeer,
lässt sich kraftlos treiben,
von dem Rattern und Flackern und Zucken
und findet sein Zuhause
für einen Atemzug
im Bewusstsein der Wahrheit,
dem Schicksal des Fremden,
im wohlig warmen Einsamsein.

Mittwoch, 7. März 2018

Ich möchte ein Eisbär sein

Alles fühlt sich an wie Weihnachten:
Die Industrieschornsteine Wesselings zieh'n rot blinkend am Zugfenster vorbei
und die Welt ist golden, gut und schön.
Der Żubrówka wärmt von innen und meine
heißgeliebte Wassernymphe lächelt mich verstohlen an.

Ich selbst hätte dagegen gewettet:
Eine Person zu werden,
ein Leben zu leben.
Ein Gutes.

Text mit dem Titel »Münsterplatz«

Atlas schlendert durch das nächtliche Bonn. Die Laternen leuchten golden, der Wind zieht scharf an den abstehenden Ohren entlang. Ein Pärchen kommt um die Ecke gestolpert, eng umschlungen: Er mit zurückgegeltem schwarzen Haar, sie blondiert, in beigefarbenem Mantel. Beide volltrunken, die Gesichter rot verfärbt, bleiben vor dem Starbucks stehen, kichern sich zu überzogen, als dass es ehrlich wirkte, verliebt an, verschmelzen widerwärtig mit der Mittelmäßigkeit, die sie umgibt.
Atlas sieht seine Chance gekommen, ext den letzten Schluck vom schalen Bier und tut einen beherzten Schritt auf beide zu. Er holt tief Luft, setzt hilflos stotternd an: ,,Vvvverzeeihung...?''
Die Frau schaut verwirrt, enttäuscht, entsetzt. Der Mann erbost, stumpf. Irgendwo wird ein Fenster geschlossen, in der Ferne beginnt eine Pkw-Alarmanlage zu lärmen. Atlas kniet sich langsam auf den Boden und beginnt hemmungslos zu schluchzen. Tränen tropfen alles voll. Der Mann wendet sich angewidert ab, die Frau versteckt verschreckt ihr überschminktes Gesicht in Schal und Mantelkragen. Plötzlich beginnt Atlas wie besessen, käferhaft nach vorn zu kriechen, gibt dabei wütend gurgelnde Stöhnlaute von sich, deren Lautstärke sich, von Altbaufassaden abprallend, sinnlos potenziert. Er versucht mit irrem Blick das Hosenbein des Mannes zu erhaschen. Der tritt ihm unbeholfen auf den Kopf, wimmert dabei wie ein kleines Kind, zerrt seine Begleiterin mit strengem Griff zu sich heran und schubst sie hektisch vor sich her, bis beide in der dunklen Nacht verschwunden sind, stößt noch wütend eine leere Drohung aus.
Atlas dreht sich auf den Rücken, spuckt Blut und Speichel auf das Kopfsteinpflaster und starrt lächelnd alle Sterne an.

Samstag, 3. März 2018

Eine Erinnerung

Es ist Silvester 2000.
Durch die von der Wärme beschlagenen Wohzimmerfensterscheiben sieht man Feuerwerkskörper bunte Schlieren in die Nacht einzeichnen. Eine vereinzelte Rakete steigt langsam auf, explodiert, und tausend blutrote Splitter fallen zitternd zu Boden. Wieder und wieder grelle Funken schlagend. Alles ist bunt und hell und neu.
Vorhin hat mein Großvater mit einem illegalen polnischen Kracher ein beträchtliches Stück der Einfahrt weggesprengt und es gab dinosaurierförmige Chicken Nuggets zum Abendessen.
Im Fernseher, der immer läuft, läuft eine deutsche Komödie von und mit Otto Waalkes. Der Kamin lässt Holz verglühen und füllt den Raum mit Wärme. Es riecht nach Rauch, glaube ich. Irgendwie beruhigend. Ich spüre die endlos-gebirgskettenartige schwarze Ledercouch weich unter meinem Rücken, eingewickelt in einen aus dutzenden Decken bestehenden Stoffberg. Dicht bei mir liegt mein Bruder, umarmt mich beinah krampfhaft, so als könne er die Zukunft kommen sehen, und starrt mich mit seinen hellbraun leuchtenden Augen an wie eine Lichtgestalt.

Die Zeit steht still, auf ewig.
Mein Großvater versinkt mit seinem dicken Bauch mehr und mehr in seinem noch dickeren Sessel. Verschmilzt: mit dem Zimmer, der Wärme, dem Leuchten – mit allem.
Auf dem Kaminsims tickt beharrlich eine alte Uhr mit römischen Ziffern, die mich wütend, rasend, tobend macht, weil ich ihre Zahlen nicht verstehe. Auf dem winzigen Wohnzimmertisch steht ein Porzellangefäß, prall gefüllt mit goldenbraunem Kandiszucker. Der alte Dackel, der – wie der Fernseher immer an war – immer da war, im Todesfall bloß unauffällig ausgetauscht wurde, liegt stumm auf seinem Platz und sonnt sich in der Wärme des Kamins, starrt mit altersmüdem Blick ins immergleiche Nichts. Meine Großmutter trinkt, wie jeden Abend, ein Bier aus einer Dose, die bedruckt scheint mit einem türkisfarbenen Muster, das, meine ich mich zu erinnern, aussieht wie eine bayrische Tischdecke.

Ich habe das alles genau so erlebt.
Danke Großvater und Großmutter, ich hoffe, es geht euch beiden gut, in eurem kleinen Wohnzimmer, im gerade beginnenden Jahr 2000, in dem ich euch so gut wie jeden Tag besuchen komme.