Mittwoch, 7. März 2018

Ich möchte ein Eisbär sein

Alles fühlt sich an wie Weihnachten:
Die Industrieschornsteine Wesselings zieh'n rot blinkend am Zugfenster vorbei
und die Welt ist golden, gut und schön.
Der Żubrówka wärmt von innen und meine
heißgeliebte Wassernymphe lächelt mich verstohlen an.

Ich selbst hätte dagegen gewettet:
Eine Person zu werden,
ein Leben zu leben.
Ein Gutes.

Text mit dem Titel »Münsterplatz«

Atlas schlendert durch das nächtliche Bonn. Die Laternen leuchten golden, der Wind zieht scharf an den abstehenden Ohren entlang. Ein Pärchen kommt um die Ecke gestolpert, eng umschlungen: Er mit zurückgegeltem schwarzen Haar, sie blondiert, in beigefarbenem Mantel. Beide volltrunken, die Gesichter rot verfärbt, bleiben vor dem Starbucks stehen, kichern sich zu überzogen, als dass es ehrlich wirkte, verliebt an, verschmelzen widerwärtig mit der Mittelmäßigkeit, die sie umgibt.
Atlas sieht seine Chance gekommen, ext den letzten Schluck vom schalen Bier und tut einen beherzten Schritt auf beide zu. Er holt tief Luft, setzt hilflos stotternd an: ,,Vvvverzeeihung...?''
Die Frau schaut verwirrt, enttäuscht, entsetzt. Der Mann erbost, stumpf. Irgendwo wird ein Fenster geschlossen, in der Ferne beginnt eine Pkw-Alarmanlage zu lärmen. Atlas kniet sich langsam auf den Boden und beginnt hemmungslos zu schluchzen. Tränen tropfen alles voll. Der Mann wendet sich angewidert ab, die Frau versteckt verschreckt ihr überschminktes Gesicht in Schal und Mantelkragen. Plötzlich beginnt Atlas wie besessen, käferhaft nach vorn zu kriechen, gibt dabei wütend gurgelnde Stöhnlaute von sich, deren Lautstärke sich, von Altbaufassaden abprallend, sinnlos potenziert. Er versucht mit irrem Blick das Hosenbein des Mannes zu erhaschen. Der tritt ihm unbeholfen auf den Kopf, wimmert dabei wie ein kleines Kind, zerrt seine Begleiterin mit strengem Griff zu sich heran und schubst sie hektisch vor sich her, bis beide in der dunklen Nacht verschwunden sind, stößt noch wütend eine leere Drohung aus.
Atlas dreht sich auf den Rücken, spuckt Blut und Speichel auf das Kopfsteinpflaster und starrt lächelnd alle Sterne an.

Samstag, 3. März 2018

Eine Erinnerung

Es ist Silvester 2000.
Durch die von der Wärme beschlagenen Wohzimmerfensterscheiben sieht man Feuerwerkskörper bunte Schlieren in die Nacht einzeichnen. Eine vereinzelte Rakete steigt langsam auf, explodiert, und tausend blutrote Splitter fallen zitternd zu Boden. Wieder und wieder grelle Funken schlagend. Alles ist bunt und hell und neu.
Vorhin hat mein Großvater mit einem illegalen polnischen Kracher ein beträchtliches Stück der Einfahrt weggesprengt und es gab dinosaurierförmige Chicken Nuggets zum Abendessen.
Im Fernseher, der immer läuft, läuft eine deutsche Komödie von und mit Otto Waalkes. Der Kamin lässt Holz verglühen und füllt den Raum mit Wärme. Es riecht nach Rauch, glaube ich. Irgendwie beruhigend. Ich spüre die endlos-gebirgskettenartige schwarze Ledercouch weich unter meinem Rücken, eingewickelt in einen aus dutzenden Decken bestehenden Stoffberg. Dicht bei mir liegt mein Bruder, umarmt mich beinah krampfhaft, so als könne er die Zukunft kommen sehen, und starrt mich mit seinen hellbraun leuchtenden Augen an wie eine Lichtgestalt.

Die Zeit steht still, auf ewig.
Mein Großvater versinkt mit seinem dicken Bauch mehr und mehr in seinem noch dickeren Sessel. Verschmilzt: mit dem Zimmer, der Wärme, dem Leuchten – mit allem.
Auf dem Kaminsims tickt beharrlich eine alte Uhr mit römischen Ziffern, die mich wütend, rasend, tobend macht, weil ich ihre Zahlen nicht verstehe. Auf dem winzigen Wohnzimmertisch steht ein Porzellangefäß, prall gefüllt mit goldenbraunem Kandiszucker. Der alte Dackel, der – wie der Fernseher immer an war – immer da war, im Todesfall bloß unauffällig ausgetauscht wurde, liegt stumm auf seinem Platz und sonnt sich in der Wärme des Kamins, starrt mit altersmüdem Blick ins immergleiche Nichts. Meine Großmutter trinkt, wie jeden Abend, ein Bier aus einer Dose, die bedruckt scheint mit einem türkisfarbenen Muster, das, meine ich mich zu erinnern, aussieht wie eine bayrische Tischdecke.

Ich habe das alles genau so erlebt.
Danke Großvater und Großmutter, ich hoffe, es geht euch beiden gut, in eurem kleinen Wohnzimmer, im gerade beginnenden Jahr 2000, in dem ich euch so gut wie jeden Tag besuchen komme.