Freitag, 13. Dezember 2019

Mit der Welt auf den Schultern

Mir ist irgendwann ein Mitbewohner namens Atlas zugelaufen. Er stand nachts betrunken vor der Tür und sagte, die Welt sei voll von Monstern. Seitdem lebt er in meiner Textschublade und scheint sich dort, zwischen Spinnweben und vergilbten Gedanken, recht wohl zu fühlen.
Manchmal, wenn ich in den Spiegel schaue, lächelt er zaghaft zurück und wenn ich am Montagmorgen zu schwach zum Aufstehen bin, schleicht er für mich aus der Wohnung – trifft Freunde und Familie, sitzt verschnupft im Hörsaal rum.
Eigentlich verstehen wir uns gut; auch wenn er nichts als Rotwein trinkt und ständig blutrote Flecken auf dem Holzboden hinterlässt, die sich zunehmend zu einem Meer ausbreiten. Ich habe ihn noch nie essen sehen und immer, wenn ich nachts wach werde, steht er in der Zimmerecke und starrt mich an oder sitzt rauchend auf der Fensterbank.
Einmal hat mir Atlas »von früher« erzählt und mich ratlos angeschaut. Da habe ich schnell gesagt: »ich verspreche Dir, dass ich Dich beschützen will!«, sein Gesicht war dann ganz weiß und ich musste plötzlich ein paar Tränen unterdrücken. Er hat mir die Hand auf die Schulter gelegt und kurz sah ich im Innern klar und deutlich einen Eiskristall.

Ich bin manchmal traurig, weil Atlas zu viel trinkt und tagelang besoffen durch die Großstadt zieht. Zu Hause redet er von Liebeskummer oder liegt regungslos im Lesesessel; daneben leere Rotweinflaschen und Texte von Bukowski, Fauser, Hemingway.
»He!«, rufe ich dann, »Du machst schon wieder Flecken auf die Bücher!«, doch da ist er meistens eingeschlafen und zittert unruhig vor sich hin.
Wenn er so erschöpft wegdöst, muss ich seine Schicht im Amüsierbetrieb der Nacht übernehmen: Trinken, reden, rauchen. Kneipe, Gosse, Bahnhof. Alles durcheinander.
Es wundert mich ein wenig, dass niemand bemerkt, wenn wir einander vertreten. Als ich neulich im Café war, hat mich eine Kellnerin neugierig mit ihren Haselnussaugen angeschaut und sich schnell weggedreht. Ich kann dann nur erahnen, was Atlas letzte Nacht gemacht hat. Das mit den Frauen und ihm ist ein bisschen kompliziert.

Es ist ein anstrengendes, aber auch ein schönes Leben. Wenn Atlas nicht gerade zu nah an Dach- und Bahnsteigkanten schwankt oder meinen Besuch mit seinen Sauf- und Gruselgeschichten vergrault. Er wird sofort nervös, wenn man ihn nicht am laufenden Band beachtet und mit seiner Selbstsucht und seiner Kindlichkeit erinnert er mich manchmal an einen betrunkenen Waschbären.
»Weißt Du«, sagte Atlas einmal, »ich mag Dich wirklich gern«, dann wurde er ganz rot und stolperte hustend durch den Raum. Überall entstanden noch mehr Rotweinpfützen.

Ich habe keine Ahnung, wo Atlas herkommt und was genau er macht (außer rauchen und trinken und reden), aber wenn er zu müde ist, vor die Tür zu gehen und ich seine Schicht übernehme – dann denke ich mir manchmal, derweil die ersten Tauben auf den Dächern gurren, beim letzten Bier am Bahnhof, dass ich froh bin, dass er da ist.

Sonntag, 8. Dezember 2019

Glühwein zum Frühstück

Es ist nicht das Rausch-
sondern vielmehr: das Spiegeltrinken,
das mich seit Herbstbeginn so stur in seinen Fingern hält.

Mit leichter Schlagseite zum Postkasten schwankend,
den Brief an das Finanzamt in der Hand,
dass man mich jetzt wohl einen »Schriftsteller« zu nennen hat.

Der Vollmond hinter Wolkenfetzen versteckt,
das Denken ruhig und klar
– ein seltsam schöner Augenblick.