Montag, 5. Oktober 2020

Ritueller Spätsommerurlaub

Nachts konnte man von Deinem Bett aus durch das Dachfenster die Sterne sehen und morgens wurde man von den Motorgeräuschen des Busbahnhofs geweckt. Kalte Luft zog durch die Fenster in den kleinen Raum hinein. Neben mir lag Lara, friedlich schlafend, und auf dem Boden, bunt verteilt, die Zierkissen.
Deine Katze hatte die ganze Nacht vor der Tür gelungert, weil sie ins Schlafzimmer wollte, aber da ich Allergiker bin, ging das nicht – und dann ist sie trotzdem immer wieder in den Raum gesprungen und ich hab' geschrien und sie hat mich blöd angestarrt, sich unter dem Schrank versteckt und ließ sich nur mit Mühe – für ein paar Minuten zumindest – aus dem Raum rausscheuchen.
Der Holzboden hat bei jedem Schritt geknarzt. Nachts dachte ich, dass man die Anderen im Haus mit Sicherheit beim Schlafen stört, und im Morgengrauen, dass man sie garantiert aufweckt; dann bin ich auf Zehenspitzen herumgeschlichen, aber Du saßt da schon mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf dem großen Sofa im Wohnzimmer und hast mich genervt gefragt, wieso ich so bescheuert laufe, und die Katze hat im Bücherregal, hinter den dicken, grünen Blättern der Monstera gehockt und geträllert: »Miau, genau, Du Vollidiot!«, während sie verstohlen in Richtung des Schlafzimmereingangs schielte. Dann hab' ich auch Kaffee bekommen und Marx gelesen und war für einen Augenblick glücklich. Und dann ist Lara wachgeworden und wir haben zusammen im Wohnzimmer gesessen, bis Du irgendwann, aus falsch verstandener Höflichkeit, vorgeschlagen hast, in die Innenstadt zu gehen, und wir, aus noch falscherer Höflichkeit, zugesagt haben.
Wir sind dann verwirrt und gereizt durch die unerträgliche Spätsommerhitze gekrochen, um im trostlosen Aldi Nord, den es bei Euch gibt, Süßigkeiten für dreizehn Euro zu kaufen, und vor uns an der Kasse stand dieser widerwärtige Barfuß-Hippie mit ungewaschenen Wursthaaren. Danach sind wir hektisch zurück in die Wohnung geschlichen und haben uns aufs Sofa geworfen – und da waren wieder die Katze und die Geborgenheit, und vielleicht sind wir für ein, zwei Stunden eingeschlafen.

Als ich aufgewacht bin, musste ich unwillkürlich an die Anreise zurückdenken und wie Lara und ich entspannt in der ehemaligen Hauptstadt gestartet sind, aber dann, beim Einstieg in den ICE in Richtung Frankfurt, die Nerven verloren haben, weil der Zug überfüllt war und ich an die Loveparade und an den bunten Berg aus Menschen, der mich fast zerdrückt hätte, zurückdenken musste, während Lara einfach in den Arm genommen werden wollte. Wir haben uns gestritten und die Rentner haben abschätzig und interessiert zwischen den Sitzen zu uns rübergeschaut.
Im Regionalexpress nach Marburg haben wir Arm in Arm aus dem Fenster geschaut, vor dem die letzten grünen Wiesen satt und stolz in Richtung Himmel strahlten, und als die Sonne unterging, hatte ich Gänsehaut und alles hat sich weniger sinnlos als sonst angefühlt. Du hast uns am Bahnhof abgeholt und als wir in Deine Wohnung kamen, war alles total ordentlich und schön und die Katze hat freundlich gegrüßt und ich war froh, dass es Dich gibt und dass wir noch immer befreundet sind.

Das wollte ich Dir eigentlich gesagt haben, am Vorabend unserer Abreise, als wir über unsere Jugend und die Hoffnungslosigkeit, über den Schmerz und die Einsamkeit, den Verlust und die Trauer geredet haben. Da hätte ich Dir gerne gesagt: »Pass mal auf, ich weiß, dass Du mit Lob schlecht umgehen kannst und dass ehrlich sein nicht immer meine Stärke ist – aber ich wollte mich einfach bei Dir bedanken. Ich wollte mich einfach kurz bei Dir dafür bedanken, dass Du für mich da warst, als ich angefangen habe, klarzukommen und noch nicht wusste, wie das geht. Dafür, dass Du mir keinen einzigen Vorwurf gemacht hast, obwohl ich mich, fast immer, berechnend und vereinnahmend verhalte. Ich wollte mich einfach dafür bedanken, dass Du mir, immer wieder, gesagt hast, dass die Stimmung, der Augenblick, nicht für immer anhält, sondern abklingt und dass ich mich wieder einkriegen soll und dass ich lächerlich bin und dass andere Leute auch Probleme haben. Und ich weiß, dass das alles selbstgerechte Rührseligkeit ist und dass ich übertreibe und so weiter und so fort…«
Dabei hätte ich den Bezug zur Außenwelt verloren und wäre bis zum Kinn in meinem Monolog versunken. Dann hätte ich nur noch einen grauen Schleier gesehen und mich gefühlt, als würde ich mit allem verschmelzen. Und aus Selbstsucht, so klar wie ein Eiskristall, hätte ich immer und immer weiter geredet. Ganz einfach, weil es sich so widerwärtig gut anfühlt, einmal die Wahrheit, die lange aufgestaute Wahrheit zu sagen. 

Dann hätte ich unvermittelt realisiert, dass auch das nur wieder ein Exzess ist; und dann hätte ich langsam geblinzelt und Dich und Lara entfremdet angeschaut und mich geschämt. Mein Gesicht wäre ganz rot geworden und ich hätte laut gehustet und einen blöden Witz gemacht und gehofft, dass Ihr schnell zum nächsten Programmpunkt übergeht. Und Du hättest mit Sicherheit auch gehofft, dass jetzt schnell eine Werbeeinblendung oder eine Zwischenmoderation kommt und Lara wäre peinlich berührt gewesen und hätte uns beobachtet, wie wir uns gruseln vor unseren eigenen Gefühlen, und dann hätte ich so fadenscheinig wie bestimmt zu ihr gesagt, »jetzt mach doch bitte endlich Kaffee!«, und sobald sie vom Sofa aufgestanden wäre, hätte ich mich der Länge nach ausgestreckt, geseufzt und kopfüber die Katze gemustert, die kopfschüttelnd im Regal, hinter der Monstera sitzt. Und Du hättest irgendwas gemurmelt und ein lustiges Video angemacht. Dann hätte man das Knarzen der Dielen gehört, das Schnurren der Katze und das Rotieren des Ventilators. Und wir hätten beide aus dem Fenster in den Nachthimmel geschaut und uns gefragt, wann wir eigentlich erwachsen geworden sind, und ob das Leben jetzt gut oder schlecht ist. Dann hätten wir schwer geatmet und man hätte erst den Kaffee gerochen und dann, aus dem Augenwinkel, gesehen, wie Lara mit den Tassen in der Hand zurückkommt und uns anlächelt; und dann hättest Du gesagt, dass ich ein Idiot bin und ich hätte Dir zugestimmt und die Katze auch und Lara sowieso. Dann hätten wir schweigend unseren Kaffee getrunken und, aufgewühlt vor Freude und vor Angst, darüber nachgedacht, wie der Rest von diesem Jahr wohl noch so wird, und am Himmel wäre ein großer Vollmond gewesen, der Marburg mit einem dichten Netz aus Licht umhüllt.