Samstag, 6. Februar 2021

Dissoziation

Im Lauf der Woche hab' ich immer wieder irgendwo herumgestanden und an meinen Großvater gedacht: Wie ich meine Kindheit auf dem Dorf verbracht habe, wie er irgendwann verrückt geworden ist und wieso ich heute die Vernunft so hochhalte; dass ich mich schuldig fühle, weil er gestorben ist und wie mein Kinderherz in Scherben dalag. Der Himmel war grau und fleckig. Die kaputten Gedanken lagen zerstückelt auf den Feldern, vergraben im Wald und verstreut im Bach. 

Dann wurde es Abend. 

Du hast zugedeckt in meinem Lesesessel gesessen und mich mit großen Augen angeschaut. Vor dem Fenster eine Wand aus Schnee, dazwischen dunkle Flecken Nacht. Im Zimmer krochen schwerfällig angegilbte Erinnerungen durch das Kerzenlicht und den Rauch der Räucherstäbchen. Erinnerungen, die dir heilig sind und die dich vor der Welt beschützen. Und so erschien da in der Zimmerecke, zwischen Bücherregal und vertrockneter Topfpflanze, ein heller Dachboden mit weichem, orangefarbenem Boden, der nachgibt, wenn man drüberläuft – auf dem, an einem friedlich leuchtenden Samstagnachmittag, irgendwann im Spätsommer, ein Dutzend kleiner Mädchen in bunten Sportanzügen fröhlich kichernd turnt. 

Und mehr will ich an dieser Stelle gar nicht schreiben, außer dass ich dort die Staubkörner durch die Luft fliegen sehen konnte und die Sonnenstrahlen, wie sie durch die runden Fenster fielen und dass ein großer Baum neben dem Haus stand und im Garten war ein Hund. 

Nach zehn Minuten oder einer Stunde hab' ich verstört die Augen aufgeschlagen und du hast müde geblinzelt. Dann hast du leise gesagt, dass ich dich noch nie so angeschaut hätte. Und ich hab zögernd geantwortet, dass ich ganz viel empfinde; so viel empfinde, dass mir fast die Gallensäure hochkommt – aber keine Traurigkeit. 

Das war am Abend des ersten Tages, an dem ich es geschafft hatte, dir zu sagen, dass ich in den Arm genommen werden will – anstatt dich, wie sonst noch immer viel zu oft, anzuschreien, wenn der Hass und die Verzweiflung der Vergangenheit die Gegenwart vergiften wie ein Tropfen Tinte das Wasser in einer Blumenvase aus Kristallglas.

Und dann hab' ich geheult. Immer weiter geheult. Und mich schwach und geborgen gleichzeitig gefühlt. Weil ich endlich verstanden habe, dass du mich weiter siehst, auch wenn ich mich selbst nicht mehr erkennen kann; weil ich verstanden habe, dass du bei mir bleibst, auch wenn ich mich selbst nicht mehr ertrage. 

Dann geht die Sonne auf. 

Ich starre an die Zimmerdecke. Eine sanfte Stimme, ganz hinten links im Raum, sagt, sie freue sich, dass ich mittlerweile besser mit meinen Emotionen umgehen könne; dass ich die Intensität, in der ich empfinde, nicht immerzu zu pathologisieren bräuchte. Und wie gut es doch sei, dass ich mir nicht in den Arm schneiden oder das Zaubergift im Blutkreislauf zu hoch dosieren will. 

Und dann sage ich: Ja, stimmt. Und auf dem Weg zum Bahnhof muss ich lachen. Und die Bäume im Kurpark stehen da wie angewurzelt. Denn Kafka sagt, alles sei nur scheinbar: Wir sind wie Baumstämme im Schnee, und schon ein kleiner Stoß des Schicksals reicht, uns wegzuschieben. 

Aber du bist meine Erde. 
In deiner Liebe will ich Wurzeln schlagen. 
Ich habe keine Angst mehr vor der Welt.