Dienstag, 17. November 2020

Erste Betrachtung eines Suchtkranken

Ein ganz normaler Sonntagabend in irgendeiner deutschen Großstadt. Keine Pointe. Kein Drama. Sucht hat viele Gesichter. Nun folgt eines davon.

Ein junger Mann sitzt auf einer Parkbank und starrt auf den Boden. Sein Herz schlägt viel zu schnell, er ist seit achtundfünfzig Stunden wach. Am Himmel geht der Tag langsam in die Nacht über und taucht die Stadt in sattes Dunkelblau. Manchmal läuft jemand an dem jungen Mann vorbei und dann erschreckt er sich. Ein See aus Schatten zuckt in seinen Augenwinkeln. Er raucht seine siebzehnte Zigarette, seitdem er auf der Bank sitzt und neben seinem Rucksack, auf dem Boden, steht eine halb geleerte Wodkaflasche. Der Geschmack vom Schnaps gibt ihm ein gutes Gefühl: Wenn die Wärme den Hals runterrollt und anschließend ein erträgliches Brennen in der Magengegend eintritt, dann fühlt er sich – für einen Augenblick – ein bisschen weniger abgestumpft als sonst. »Es ist wirklich paradox mit dem klaren Schnaps: wenn man nur oft genug ausreichend davon trinkt, dann wird man nicht verwirrt, sondern putzmunter vom Saufen«, denkt er. Glaubt er zu denken. Seine Gedanken – falls man diese noch so nennen kann – sind mittlerweile wie geronnenes Ei, das langsam auf der heißen Metallplatte des synthetischen Wachseins verbrennt. Der junge Mann steckt sich die achtzehnte Zigarette an und legt den Kopf in den Nacken. Er seufzt erschöpft und zufrieden, wie nach einer langen Wanderung. Er kann nicht länger sagen, wo er, als fleischliches Wesen, und wo sein Denken anfängt oder aufhört: Alles verschwimmt seltsam schwammig ineinander. Ein Windstoß wirbelt etwas Laub umher. Es ist ein lauer Herbstabend. Ein Rentner in neonfarbener Sportkleidung joggt keuchend durch die golden-bunt-braunen Blätter. Seine schnellen Schritte bilden einen Rhythmus, der den Wodkatrinker unwillkürlich in die Hände klatschen lässt. Er steht auf – und fällt auf der Stelle um. Lachen! Er muss lachen! Alles halb so wild. Er hievt sich hoch und stolpert unbeholfen weiter. Die Laternen der Parkanlage leuchten golden. Es ist dieses schöne, alte Modell aus schwarzem Metall mit geschwungenem Kopf. Das mag er am liebsten.
Und wie er so stolpernd das Flussufer erreicht, da denkt er sich beim Anblick der langen Krümmung des Flusses und der Reflexion der Laternenlichter im dunklen, kalten Nass, dass das Ganze aussieht, wie eine von diesen großen Eisenbahnbrücken in den alten Wildwestfilmen: Die langen Stäbe aus Licht, die im gebogenen Fluss zu versinken scheinen, wie in einer tiefen Schlucht. Im Film würde jetzt ein Zug über die Brücke rattern, in dem der maskierte Bösewicht eine Tonne TNT versteckt hat und die der Held – beim Retten einer Jungfrau in Nöten – vom Detonieren abhalten muss.
Aber das hier ist kein Film. Der aufgeputschte Parkbesucher hustet gequält. An seine Geliebte hat er nicht mehr gedacht, seitdem sie sich Freitagnacht auf irgendeiner Clubtoilette um Nichtigkeiten gestritten haben. Und jetzt steht der einsame Trinker am Flussufer, lässig angelehnt an das Geländer, raucht seine neunzehnte Zigarette und hätte große Lust, sich zu ertränken. Stattdessen schleudert er die leere Flasche Schnaps ins Wasser und starrt ihr unversöhnlich hinterher.
Morgen früh wird der Wecker klingeln und er wird, mit leichter Verspätung, auf der Arbeit erscheinen. So wie jeden Montag. Beruflich macht er irgendwas mit Medien, vielleicht ist er auch studentische Hilfskraft oder arbeitet bei einer beliebigen Bundesbehörde. Seine Geliebte ist die dritte dieses Jahr. Mit allen hat er sich immer und immer wieder auf irgendwelchen Clubtoiletten gestritten. Er hat sie alle immer irgendwie gern; aber am Ende des Tages trinkt er seinen Schnaps am liebsten alleine. Auf seinem Mobiltelefon sind zwei Dutzend entgangene Anrufe von seinen Eltern, alten Schulfreunden und Bekannten.
Eigentlich, findet er, ist alles halb so wild. Er wird sich wieder hochhieven und dann weiterschwanken. Weiter, immer weiter.

Ein ganz normaler Sonntagabend in irgendeiner deutschen Großstadt. Keine Pointe. Kein Drama. Sucht hat viele Gesichter. Das war eines davon.

Samstag, 14. November 2020

Lockdown Light Langeweile

Anfang März dachte ich,
in ein paar Wochen ist der Spuk vorbei.
Jetzt sitze ich zu Hause und starre auf den Bildschirm,
bei Sonnenauf- und -untergang;
die Wohnung voll mit Müll
und dicker Staub auf all den Büchern an der Wand.

Zu Beginn des drögen Jahres, da fehlte mir zu Hause nichts:
Die Innenstadt ist eh zu voll
und Menschenmassen machen Angst.
Doch langsam,
ganz langsam,
fängt die Tapete an zu schmelzen
und
nach und nach
tropft matschig weiß
die Wand auf den Holzboden.
Bis zu meinen grauen Knöcheln reicht die bleiche Suppe mittlerweile.
 
Manchmal
bleibt ein Mann mit Hut vor meinem Fenster stehen
und schaut mich traurig an.
Dann winke ich erschöpft und lächle brav zurück.

Ach, wie wird das alles enden?
Hellwach träum' ich vom Winterschlaf und
sehe dicken Staub
jetzt auch als
Schicht auf
mir.