Dienstag, 17. November 2020

Erste Betrachtung eines Suchtkranken

Ein ganz normaler Sonntagabend in irgendeiner deutschen Großstadt. Keine Pointe. Kein Drama. Sucht hat viele Gesichter. Nun folgt eines davon.

Ein junger Mann sitzt auf einer Parkbank und starrt auf den Boden. Sein Herz schlägt viel zu schnell, er ist seit achtundfünfzig Stunden wach. Am Himmel geht der Tag langsam in die Nacht über und taucht die Stadt in sattes Dunkelblau. Manchmal läuft jemand an dem jungen Mann vorbei und dann erschreckt er sich. Ein See aus Schatten zuckt in seinen Augenwinkeln. Er raucht seine siebzehnte Zigarette, seitdem er auf der Bank sitzt und neben seinem Rucksack, auf dem Boden, steht eine halb geleerte Wodkaflasche. Der Geschmack vom Schnaps gibt ihm ein gutes Gefühl: Wenn die Wärme den Hals runterrollt und anschließend ein erträgliches Brennen in der Magengegend eintritt, dann fühlt er sich – für einen Augenblick – ein bisschen weniger abgestumpft als sonst. »Es ist wirklich paradox mit dem klaren Schnaps: wenn man nur oft genug ausreichend davon trinkt, dann wird man nicht verwirrt, sondern putzmunter vom Saufen«, denkt er. Glaubt er zu denken. Seine Gedanken – falls man diese noch so nennen kann – sind mittlerweile wie geronnenes Ei, das langsam auf der heißen Metallplatte des synthetischen Wachseins verbrennt. Der junge Mann steckt sich die achtzehnte Zigarette an und legt den Kopf in den Nacken. Er seufzt erschöpft und zufrieden, wie nach einer langen Wanderung. Er kann nicht länger sagen, wo er, als fleischliches Wesen, und wo sein Denken anfängt oder aufhört: Alles verschwimmt seltsam schwammig ineinander. Ein Windstoß wirbelt etwas Laub umher. Es ist ein lauer Herbstabend. Ein Rentner in neonfarbener Sportkleidung joggt keuchend durch die golden-bunt-braunen Blätter. Seine schnellen Schritte bilden einen Rhythmus, der den Wodkatrinker unwillkürlich in die Hände klatschen lässt. Er steht auf – und fällt auf der Stelle um. Lachen! Er muss lachen! Alles halb so wild. Er hievt sich hoch und stolpert unbeholfen weiter. Die Laternen der Parkanlage leuchten golden. Es ist dieses schöne, alte Modell aus schwarzem Metall mit geschwungenem Kopf. Das mag er am liebsten.
Und wie er so stolpernd das Flussufer erreicht, da denkt er sich beim Anblick der langen Krümmung des Flusses und der Reflexion der Laternenlichter im dunklen, kalten Nass, dass das Ganze aussieht, wie eine von diesen großen Eisenbahnbrücken in den alten Wildwestfilmen: Die langen Stäbe aus Licht, die im gebogenen Fluss zu versinken scheinen, wie in einer tiefen Schlucht. Im Film würde jetzt ein Zug über die Brücke rattern, in dem der maskierte Bösewicht eine Tonne TNT versteckt hat und die der Held – beim Retten einer Jungfrau in Nöten – vom Detonieren abhalten muss.
Aber das hier ist kein Film. Der aufgeputschte Parkbesucher hustet gequält. An seine Geliebte hat er nicht mehr gedacht, seitdem sie sich Freitagnacht auf irgendeiner Clubtoilette um Nichtigkeiten gestritten haben. Und jetzt steht der einsame Trinker am Flussufer, lässig angelehnt an das Geländer, raucht seine neunzehnte Zigarette und hätte große Lust, sich zu ertränken. Stattdessen schleudert er die leere Flasche Schnaps ins Wasser und starrt ihr unversöhnlich hinterher.
Morgen früh wird der Wecker klingeln und er wird, mit leichter Verspätung, auf der Arbeit erscheinen. So wie jeden Montag. Beruflich macht er irgendwas mit Medien, vielleicht ist er auch studentische Hilfskraft oder arbeitet bei einer beliebigen Bundesbehörde. Seine Geliebte ist die dritte dieses Jahr. Mit allen hat er sich immer und immer wieder auf irgendwelchen Clubtoiletten gestritten. Er hat sie alle immer irgendwie gern; aber am Ende des Tages trinkt er seinen Schnaps am liebsten alleine. Auf seinem Mobiltelefon sind zwei Dutzend entgangene Anrufe von seinen Eltern, alten Schulfreunden und Bekannten.
Eigentlich, findet er, ist alles halb so wild. Er wird sich wieder hochhieven und dann weiterschwanken. Weiter, immer weiter.

Ein ganz normaler Sonntagabend in irgendeiner deutschen Großstadt. Keine Pointe. Kein Drama. Sucht hat viele Gesichter. Das war eines davon.

Samstag, 14. November 2020

Lockdown Light Langeweile

Anfang März dachte ich,
in ein paar Wochen ist der Spuk vorbei.
Jetzt sitze ich zu Hause und starre auf den Bildschirm,
bei Sonnenauf- und -untergang;
die Wohnung voll mit Müll
und dicker Staub auf all den Büchern an der Wand.

Zu Beginn des drögen Jahres, da fehlte mir zu Hause nichts:
Die Innenstadt ist eh zu voll
und Menschenmassen machen Angst.
Doch langsam,
ganz langsam,
fängt die Tapete an zu schmelzen
und
nach und nach
tropft matschig weiß
die Wand auf den Holzboden.
Bis zu meinen grauen Knöcheln reicht die bleiche Suppe mittlerweile.
 
Manchmal
bleibt ein Mann mit Hut vor meinem Fenster stehen
und schaut mich traurig an.
Dann winke ich erschöpft und lächle brav zurück.

Ach, wie wird das alles enden?
Hellwach träum' ich vom Winterschlaf und
sehe dicken Staub
jetzt auch als
Schicht auf
mir.

Montag, 5. Oktober 2020

Ritueller Spätsommerurlaub

Nachts konnte man von Deinem Bett aus durch das Dachfenster die Sterne sehen und morgens wurde man von den Motorgeräuschen des Busbahnhofs geweckt. Kalte Luft zog durch die Fenster in den kleinen Raum hinein. Neben mir lag Lara, friedlich schlafend, und auf dem Boden, bunt verteilt, die Zierkissen.
Deine Katze hatte die ganze Nacht vor der Tür gelungert, weil sie ins Schlafzimmer wollte, aber da ich Allergiker bin, ging das nicht – und dann ist sie trotzdem immer wieder in den Raum gesprungen und ich hab' geschrien und sie hat mich blöd angestarrt, sich unter dem Schrank versteckt und ließ sich nur mit Mühe – für ein paar Minuten zumindest – aus dem Raum rausscheuchen.
Der Holzboden hat bei jedem Schritt geknarzt. Nachts dachte ich, dass man die Anderen im Haus mit Sicherheit beim Schlafen stört, und im Morgengrauen, dass man sie garantiert aufweckt; dann bin ich auf Zehenspitzen herumgeschlichen, aber Du saßt da schon mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf dem großen Sofa im Wohnzimmer und hast mich genervt gefragt, wieso ich so bescheuert laufe, und die Katze hat im Bücherregal, hinter den dicken, grünen Blättern der Monstera gehockt und geträllert: »Miau, genau, Du Vollidiot!«, während sie verstohlen in Richtung des Schlafzimmereingangs schielte. Dann hab' ich auch Kaffee bekommen und Marx gelesen und war für einen Augenblick glücklich. Und dann ist Lara wachgeworden und wir haben zusammen im Wohnzimmer gesessen, bis Du irgendwann, aus falsch verstandener Höflichkeit, vorgeschlagen hast, in die Innenstadt zu gehen, und wir, aus noch falscherer Höflichkeit, zugesagt haben.
Wir sind dann verwirrt und gereizt durch die unerträgliche Spätsommerhitze gekrochen, um im trostlosen Aldi Nord, den es bei Euch gibt, Süßigkeiten für dreizehn Euro zu kaufen, und vor uns an der Kasse stand dieser widerwärtige Barfuß-Hippie mit ungewaschenen Wursthaaren. Danach sind wir hektisch zurück in die Wohnung geschlichen und haben uns aufs Sofa geworfen – und da waren wieder die Katze und die Geborgenheit, und vielleicht sind wir für ein, zwei Stunden eingeschlafen.

Als ich aufgewacht bin, musste ich unwillkürlich an die Anreise zurückdenken und wie Lara und ich entspannt in der ehemaligen Hauptstadt gestartet sind, aber dann, beim Einstieg in den ICE in Richtung Frankfurt, die Nerven verloren haben, weil der Zug überfüllt war und ich an die Loveparade und an den bunten Berg aus Menschen, der mich fast zerdrückt hätte, zurückdenken musste, während Lara einfach in den Arm genommen werden wollte. Wir haben uns gestritten und die Rentner haben abschätzig und interessiert zwischen den Sitzen zu uns rübergeschaut.
Im Regionalexpress nach Marburg haben wir Arm in Arm aus dem Fenster geschaut, vor dem die letzten grünen Wiesen satt und stolz in Richtung Himmel strahlten, und als die Sonne unterging, hatte ich Gänsehaut und alles hat sich weniger sinnlos als sonst angefühlt. Du hast uns am Bahnhof abgeholt und als wir in Deine Wohnung kamen, war alles total ordentlich und schön und die Katze hat freundlich gegrüßt und ich war froh, dass es Dich gibt und dass wir noch immer befreundet sind.

Das wollte ich Dir eigentlich gesagt haben, am Vorabend unserer Abreise, als wir über unsere Jugend und die Hoffnungslosigkeit, über den Schmerz und die Einsamkeit, den Verlust und die Trauer geredet haben. Da hätte ich Dir gerne gesagt: »Pass mal auf, ich weiß, dass Du mit Lob schlecht umgehen kannst und dass ehrlich sein nicht immer meine Stärke ist – aber ich wollte mich einfach bei Dir bedanken. Ich wollte mich einfach kurz bei Dir dafür bedanken, dass Du für mich da warst, als ich angefangen habe, klarzukommen und noch nicht wusste, wie das geht. Dafür, dass Du mir keinen einzigen Vorwurf gemacht hast, obwohl ich mich, fast immer, berechnend und vereinnahmend verhalte. Ich wollte mich einfach dafür bedanken, dass Du mir, immer wieder, gesagt hast, dass die Stimmung, der Augenblick, nicht für immer anhält, sondern abklingt und dass ich mich wieder einkriegen soll und dass ich lächerlich bin und dass andere Leute auch Probleme haben. Und ich weiß, dass das alles selbstgerechte Rührseligkeit ist und dass ich übertreibe und so weiter und so fort…«
Dabei hätte ich den Bezug zur Außenwelt verloren und wäre bis zum Kinn in meinem Monolog versunken. Dann hätte ich nur noch einen grauen Schleier gesehen und mich gefühlt, als würde ich mit allem verschmelzen. Und aus Selbstsucht, so klar wie ein Eiskristall, hätte ich immer und immer weiter geredet. Ganz einfach, weil es sich so widerwärtig gut anfühlt, einmal die Wahrheit, die lange aufgestaute Wahrheit zu sagen. 

Dann hätte ich unvermittelt realisiert, dass auch das nur wieder ein Exzess ist; und dann hätte ich langsam geblinzelt und Dich und Lara entfremdet angeschaut und mich geschämt. Mein Gesicht wäre ganz rot geworden und ich hätte laut gehustet und einen blöden Witz gemacht und gehofft, dass Ihr schnell zum nächsten Programmpunkt übergeht. Und Du hättest mit Sicherheit auch gehofft, dass jetzt schnell eine Werbeeinblendung oder eine Zwischenmoderation kommt und Lara wäre peinlich berührt gewesen und hätte uns beobachtet, wie wir uns gruseln vor unseren eigenen Gefühlen, und dann hätte ich so fadenscheinig wie bestimmt zu ihr gesagt, »jetzt mach doch bitte endlich Kaffee!«, und sobald sie vom Sofa aufgestanden wäre, hätte ich mich der Länge nach ausgestreckt, geseufzt und kopfüber die Katze gemustert, die kopfschüttelnd im Regal, hinter der Monstera sitzt. Und Du hättest irgendwas gemurmelt und ein lustiges Video angemacht. Dann hätte man das Knarzen der Dielen gehört, das Schnurren der Katze und das Rotieren des Ventilators. Und wir hätten beide aus dem Fenster in den Nachthimmel geschaut und uns gefragt, wann wir eigentlich erwachsen geworden sind, und ob das Leben jetzt gut oder schlecht ist. Dann hätten wir schwer geatmet und man hätte erst den Kaffee gerochen und dann, aus dem Augenwinkel, gesehen, wie Lara mit den Tassen in der Hand zurückkommt und uns anlächelt; und dann hättest Du gesagt, dass ich ein Idiot bin und ich hätte Dir zugestimmt und die Katze auch und Lara sowieso. Dann hätten wir schweigend unseren Kaffee getrunken und, aufgewühlt vor Freude und vor Angst, darüber nachgedacht, wie der Rest von diesem Jahr wohl noch so wird, und am Himmel wäre ein großer Vollmond gewesen, der Marburg mit einem dichten Netz aus Licht umhüllt.

Mittwoch, 16. September 2020

Kurze Bestandsaufnahme II

Ich hab' seit Wochen keinen Text geschrieben.
Die Fenster sind verschmiert,
dahinter: Abendsonnenstrahlen,
die sich in den schwarzen Autodächern spiegeln,
und die Fassade gegenüber
evoziert Sehnsucht nach dem, was, gut versteckt,
dahinter scheint:
Der Strand? Die Freiheit? Das Absolute?
Die Schichten meiner Wahrnehmung
– eine Orangenhaut aus Glas –
haben abgeblüht und welken grau.

Heute Morgen bin ich wach geworden und musste
unvermittelt daran denken,
wie ich meinen Großvater zum letzten Mal gesehen,
ihm die Hosenträger über die Schultern gezogen und 
beim Aus-dem-Garten-Hinken hinterhergerufen habe:
»Pass bitte auf Dich auf, ja?!«

Jetzt steh' ich barfuß in der Küche und
denk' darüber nach, dass
manche Wunden eben blutig bleiben.

Samstag, 18. April 2020

Im Garten lesen

Das Holz des Werkzeugschuppens knarzt im Wind,
im Nachbargarten spielen die Mädchen und
ein Hund springt herum
– sonst passiert nicht viel.

»Die Blumen riechen intensiv!«,
sagst Du,
im Schatten der Hauswand sitzend,
und runzelst die Stirn.

Meine mageren Arme glühen im Sonnenlicht;
ich schaue kurz auf meine Narben
– dann schnell hoch zum Himmel.

Um uns herum das satte Grün der Pflanzen
und der Bäume;
alles voll von Blütenpollen.

Du erzählst von Zeit zu Zeit von dem Roman,
in dem Du gerade liest
– und ich
freue mich
über Deine Offenheit.

Ich verliere mich abrupt in meinem Denken.
Aber auch in diesem ruhigen
Nachmittag
mit Dir.

Dienstag, 14. April 2020

Ein Tag in Bonn

Der Sonntagmittag rinnt die Dächer der Stadt entlang,
taucht die Welt in sattes Frühlingslicht,
lässt den Raum vor lauter Tatendrang pulsieren;
jeder meiner Muskeln spannt
– Du nimmst den Hörer ab und sagst:
»Bis gleich, mein Liebster!«

Ich fühle mich eigenartig wohl in meiner Haut:
Ich strecke mich.
Ich rasiere mich.
Ich wasche mich.

Ich verstecke mich
im Schatten des Hauseingangs
vor dem gewaltigen Gefühl,
Dir nah zu sein

– bis die Tür aufgeht:
Der schöne Schwung Deiner Augen.
Die Schwärze Deines Rocks.
Die verzierten Träger Deines Oberteils.
Die Schnüre Deiner Schuhe
an den Unterschenkeln:
Mein Blick bleibt unbeholfen kleben
– und alles gerinnt zu der Gewissheit:
Es ist gut, zu leben.

Wir laufen durch die Allee der Hofgartenanlage,
mein Arm auf Deiner Schulter.
Wir sitzen am Rhein.
Wir essen Eis.
Du isst mein Eis.
Du lachst
– und ich
bin glücklich.

Dann liege ich wortlos neben Dir im Bett,
beobachte,
halb im Geheimen,
wie Du ein Foto von den lackierten Nägeln
und den Abdrücken der Schnüre
auf den blassen Beinen
machst
– und träume,
noch ganz,
ohne
zu schlafen.



Samstag, 11. April 2020

Geborgenheit

Früher,
wenn man morgens wach wurde,
und der Elternteil
bei dem man gerade lebte
noch träge seinen Rausch ausschlief,
da gab es etwas wie Geborgenheit:
nachdem man lautlos ins Wohnzimmer geschlichen war,
dort Fernseher und Videospielkonsole angeschaltet hatte,
und dann, für ein paar Stunden,
endlich friedlich träumen durfte,
weil man wusste, dass – zumindest hier –
am Ende das Gute, die Freundschaft und
die Gerechtigkeit gewinnen.

Plötzlich sagt mein Webcam-Therapeut,
das digitale Haupt in Sorgenfalten eingehüllt:
»Aber, Herr Vanitas, bei aller Liebe:
Es ist dann ja auch kein Wunder,
dass Sie, noch immer, fünfzehn Stunden täglich
auf den grellen Bildschirm starren
– selbst wenn Sie nicht mehr trinken
und auch sonst, gewiss, sehr vorbildlich Ihr Leben leben!«

Da lache ich, ganz schwach und müde,
wechsle das bunt blinkende Bildschirmfenster
zurück zu Videos von tanzenden Katzen
oder spannenden Abenteuern
– und träume ein paar Stunden
meinen alten Traum von der Geborgenheit.

Sonntag, 5. April 2020

Fetzen IV

Meine Eisprinzessin
hat mir Fieberträume eingehaucht,
für die die Welt noch keine Worte weiß.

Ich bin mir selber auf den Leim gegangen:
mein Fuchsbau nichts als Fallenwerk,
das Wundenlecken Lebenssinn.

Doch blutbeflecktes Fell,
verneigt zaghaft sich vor Zuversicht,
wenn Dein Kopf auf meiner Brust einschläft.

Fetzen III

Ich erzeuge weiter Dependenzen, weil ich,
bei Tageslicht besehen, – weiß Gott! –
kein guter Mensch bin.

Sonntag, 1. März 2020

Dritte Erinnerung

Als Kind habe ich oft darüber nachgedacht,
dass die Welt noch nicht ganz fertig ist,
wenn ich schlaftrunken im Beifahrersitz des Autos saß,
während wir
an grauen Wintertagen
durch die Autobahnbaustellen
zwischen Köln und Krefeld fuhren.

Manchmal tropfte Regen vom Himmel und
meine Mutter hat gelächelt.
Dann habe ich müde mit den Augen geblinzelt und
bin zurück in tiefe Träume eingetaucht.

Freitag, 24. Januar 2020

Ein paar schöne Augenblicke

Wir haben oft in Deinem Keller gesessen und gezockt. Das James Bond Spiel von Deinem großen Bruder. Das war ab sechzehn und das haben wir immer heimlich gespielt. In Deinem Kinderzimmer hattest Du eine gigantische Legosammlung. Es gab da dieses eine Set mit einem großen Kraken und ein paar kleinen Ruderbooten und ich war total glücklich, jedes Mal, wenn wir damit gespielt haben, weil mein Lego nur aus bunten Steinen bestand, die unsortiert in einer roten Plastikkiste ihr Dasein fristeten. 

Ich erinner mich an Euer helles Wohnzimmer, mit dem vielen Holz an den Wänden und dem viereckigen Sofa, auf dem wir manchmal, nach der Schule, saßen und Zeichentrickserien geschaut haben, die damals – statt der heutigen, menschenverachtenden Pseudo-Doku-Soaps – nachmittags im Fernsehen liefen, und wo es zumindest um Freundschaft ging und darum, dass das Gute am Ende gewinnt. 

Ich erinner mich an den ausklappbaren Tierkäfig in Eurem Garten, in dem Ihr im Sommer die Hasen habt laufen lassen und dass wir daneben Fußball gespielt haben. Der Ball ist ständig über die Hecke, auf das Nachbargrundstück geflogen. Dann haben wir rumgedruckst, wer ihn holen gehen muss; aber am Ende bist immer Du gelaufen. 

Ich erinner mich, dass einmal bei Euch eingebrochen wurde. Das ganze Haus war verwüstet worden. Du hast als Erster das Chaos gesehen, als Du nach Hause kamst, und mir am nächsten Tag, kreidebleich auf dem bunt bemalten Schulhof stehend, davon erzählt. Am selben Tag hast Du mir zugeflüstert, dass Du Dich in Sophie verliebt hast, und dass sie aussieht wie ein Engel. Ich konnte dann ein paar Abende nicht gut einschlafen, weil ich ständig dachte, ich hätte gehört, wie ein Fenster aufgebrochen wird. 

Ich erinner mich an das Sankt-Martins-Fest im Herbst, als ich die Magen-Darm-Grippe hatte. Es war spät am Abend und überall flackerten blutrote Flammen durch das dichte Schwarz. Ein verkleideter Mann ritt auf einem weißen Pferd vorbei. Wie süß die Weckmänner geschmeckt haben – und der Kakao. Wie der Becher die unterkühlten Kinderfinger für einen Augenblick aufwärmte und sich beim Ausatmen kleine Wolken auftürmten, nur, um vom grellen Laternenlicht zerstochen zu werden. Wie die Tonpfeife, die der Weckmann in der Hand hielt, erst gut schmeckte, weil noch ein bisschen Teig dranklebte, und dann, beim Draufbeißen, plötzlich an den Milchzähnen wehtat. Was für ein eigenartiges Gefühl. Irgendwann kamen wir am Haus von Deiner Tante an und ich hab volle Kanne in die Einfahrt gekotzt. Ein Erwachsener hat mir dann Wasser gebracht und vermutlich war das alles ziemlich unangenehm. 

Mein Vater hat mich abgeholt. Ich erinner mich, dass ich das Wochenende bei ihm verbracht, entkräftet im Hochbett herumgelungert und ein Harry Potter Hörbuch gehört hab. Und wie ich so getan hab, als würde ich schon schlafen, als er nachts ins Zimmer kam – um dann, heimlich, noch ein bisschen wachzuliegen und den Lichtern der vorbeifahrenden Autos hinterherzuschauen, die über die endlos hohe Zimmerdecke zuckten.

Ich erinner mich, dass Deine Eltern, im Gegensatz zu meinen, gut bezahlte Berufe hatten und deswegen morgens keine Zeit, Dir Butterbrote zu schmieren und dass Du daher oft nur ein in Plastik eingeschweißtes Schokobrötchen mithattest. Wie gierig ich darauf war und wie bereitwillig Du es gegen meine veganen Vollkornbrote aus dem Reformhaus und meine blöden Möhrenstücke eingetauscht hast. Ich dachte deshalb manchmal, dass Du ein Idiot bist, aber heute kann ich Dich verstehen. 

Ich erinner mich, dass Dein großer Bruder immer wütend aussah und dass ich Angst vor ihm hatte. Er war Köln- und Du Bayern-Fan und einmal, als er krank war, durfte ich, zusammen mit Dir und Deinem Vater, ins Fußballstadion. Da war alles astronomisch groß und laut und aufregend, obwohl ich eigentlich doch gar kein Fußball mag. 

Ich erinner mich an die Abschlussfahrt, in der vierten Klasse, und dass wir auf einem Zimmer gewesen sind. Ich hab, mal wieder, etwas Dummes und Verletzendes gesagt und Du hast mich forsch zurechtgewiesen, dass das erbärmlich sei. Das fand ich richtig stark von Dir und hab mich geschämt, weil ich nie nachdenke und oft gemein bin. 

Irgendwann sind wir aufs Gymnasium gekommen. Du bist irgendwo hingegangen, wo es einen Sportschwerpunkt gab, weil Du ein guter Fußballspieler warst. Einmal hab ich Dich, Jahre später, im Bus gesehen, aber nicht gegrüßt. Und in der Oberstufe bist Du plötzlich zurück in die Heimat, auf meine Kleinstadtschule gekommen. Wir waren mittlerweile keine Freunde mehr, auch wenn Du immer gelächelt hast und jeder Dich mochte. 

Ich hatte schon ein paar Jahre studiert und stand auf der Wiese vor dem Universitätsschloss, als ein Kindheitsfreund unvermittelt Deinen Namen erwähnte. Mein Gesicht muss ganz blass geworden sein und auf einmal hab ich die Erdanziehung viel stärker gespürt. Aber ja, ich hätte richtig gehört: Lungenkrebs. Dabei hast Du nie geraucht und nie getrunken, weil der Sport und das Am-Leben-Bleiben Dir einfach wichtiger waren. 

Eine Jahreszeit später, wieder eins dieser widerwärtigen Gespräche, in denen nebenbei Dein Name fällt und alles in mir sich zusammenzieht.

Dann lange nichts. 

Dann der Termin für die Beerdigung. 

Zweiundzwanzig Jahre alt bist Du geworden.

Ich war seitdem nicht mehr am Grab, aber Du warst mit Sicherheit ein guter Mensch und ich will zumindest dankbar sein, für die paar schönen Augenblicke, die wir zusammen hatten.

Montag, 6. Januar 2020

Jeder Ausdruck meiner Zuneigung fühlt an wie eine Falschaussage

Ein paar Wochen später saß ich am Neujahrstag verkatert auf Deinem Balkon und verlor mich für unbestimmte Zeit im Anblick des haushohen Baums gegenüber und dem dahinter hellblau zerlaufenden Winterhimmel. Meine Beine waren angewinkelt und eine Zigarette verglomm weitestgehend ungeraucht.

Ich dachte unvermittelt daran, dass es da tatsächlich einen Menschen gibt, der mir – trotz allem – wichtig ist, durch dessen Existenz mein sonst so stumpfes Dasein zuweilen einen Sinn erfährt. Und ferner dachte ich, was für ein armseliger Freund ich bin, dass ich es schon wieder (wie immer) nicht schaffe, nüchtern zu bleiben, dass ich mal wieder seltsam werde und mich zu selten melde.

Dann schlug die Kirchturmuhr viermal. Ganz kurz habe ich gespürt, dass es Dich wirklich gibt.

Sonntag, 5. Januar 2020

Ein etwas längeres Sonntagsgespräch

»Du bist nicht so allein, wie Du Dich manchmal fühlst!«, hast Du mir zum Abschied hinterhergerufen. Dabei standest Du gebückt und übermüdet im Hausflur rum. Dein Gesicht war ganz entspannt und strahlte Wärme aus.

Den ganzen Sonntag hatten wir auf Deiner Couch gelegen. Vor dem Fenster tropfte Spätherbstregen auf die Dächer und im Raum stand dichter Zigarettenrauch.
Du hast Weißwein getrunken und Dir schweigend meine Fantasiegeschichten angehört. Und nachdem ich wie ein Wasserfall aus Wortkaskaden auf Dich eingeprasselt war – dass ich nicht weiß, was Liebe ist und dass mein Eisfrostdenken alles Fühlen lähmt (und so weiter und so fort … ) –, da hast Du plötzlich gesagt: »Ich weiß, es fällt Dir schwer, aber vergiss nicht, dass Du Dich letzten Herbst verliebt und dabei zum ersten Mal den Mut gefunden hast, ehrlich – ganz Du selbst – zu sein.« Dabei hast Du mich ernst angeschaut und Deine Augen sahen traurig aus. Dann haben wir stumm geraucht, bis es draußen dunkel wurde.
»Mein Leben ist der verzweifelte Versuch, so gut es geht so etwas wie ein Mensch zu werden«, hab ich nach unbestimmter Zeit in die Stille des Raums und das Prasseln des Regens hineingeflüstert und die bleichen Hände gegeneinander gedrückt. »Es dauert unendlich lange, das Fühlenlernen nachzuholen.« Mein Gesicht lief blutrot an.
Ich habe dann schnell an die Wand geschaut und mich für meine Art, zu sein geschämt.

Und irgendwann hab ich dann doch verstanden, dass wir beide Freunde sind, und dass ich mir keine Sorgen machen muss, von Dir verletzt zu werden. Da konnte ich Dir wieder in die Augen schauen und Du hast mich freundlich durch Deine Brillengläser angelächelt.