Glück kann man nicht kaufen?
Ich sitze in derselben Buslinie wie jeden Morgen.
Es ist ein grauer, verregneter
Herbsttag.
Geschlafen habe ich in den letzten
Wochen genauso wenig wie gegessen und anscheinend haben meine
Gedanken mir endgültig den Krieg erklärt.
Alle zwei Sekunden fasse ich mir
aus Angst, es könnte unbemerkt Blut rauslaufen, an die Nase.
Gott, sind meine Finger weiß.
Aber immerhin schön lang und dürr.
Wie ein paar kahle, knochige Bäume auf einem schneebedeckten Hügel inmitten einer verträumten Tim
Burton Winterlandschaft, irgendwo im Nirgendwo.
Als ich aus dem Fenster schaue,
sehe ich einen Obdachlosen mit einer Zeitung in der Hand auf einen
jungen Mann zuschlendern.
Der junge Mann sieht trostlos aus,
leer, eingefallen.
Aber vielleicht ist das auch
einfach nur mein verzerrtes Spiegelbild in der beschmierten Fensterscheibe.
Der Mann und der Obdachlose blicken
sich kurz in die Augen, doch der Mann schüttelt den Kopf und der
Obdachlose und seine Zeitung ziehen weiter.
Die Miene des jungen Mannes
verfinstert sich.
Als ich die Augen angestrengt
zusammenkneife, sieht es so aus, als würde sein Gesicht schmelzen
und Teile davon nach und nach auf den dreckigen, grauen Bordstein
tropfen.
Aber vielleicht sind das auch
einfach nur Regentropfen, die die verschmierte Scheibe hinunterlaufen
und dann am Boden zerschellen.
Vielleicht ist es mir auch einfach
egal.
Ein paar Meter weiter steht eine hübsche Frau mit langen, dunkelbraunen Haaren, in einem gelben
Sommerkleid mit orangefarbenen Punkten drauf.
Was für ein lächerlicher Kontrast
zur sonst so tristen Bahnhofsgegend.
Meine Augen beginnen zu
brennen und durch den dumpfen Schmerz fühlt es sich an, als würde mir heißes Blut aus den Ohren tropfen.
Als ich die Hand, die gerade noch
den imaginären Blutfluss an meinem linken Nasenloch kontrollierte,
hysterisch an mein rechtes Ohr lege, sehe ich, wie der Obdachlose
beginnt, seinen stinkenden, verkrüppelten Körper in Richtung der
Frau zu bewegen.
Sie lächelt freundlich, nimmt
sogar die Kopfhörer ab.
Doch als sie die Zeitung in der
Hand des Obdachlosen erblickt, schüttelt sie langsam und vorsichtig – doch ungebrochen lächelnd – ihren schönen Kopf.
Der Obdachlose schlurft regungslos
an ihr vorbei.
In derselben Sekunde gefriert ihr
aufgesetztes Lächeln zu einem eiskalten Starren.
Alles nichts als soziale Norm.
Der einzige Grund, warum wir für
ein paar Sekunden selbst dem widerwärtigsten Abschaum das Gefühl
geben, wir würden ihn als einen Menschen sehen.
Eine Welle vollkommen gnadenloser
Hässlichkeit überkommt mich, als der Bus um die Ecke in einen
unbeleuchteten Tunnel abbiegt.
Das Letzte, was ich sehe, bevor ich
wimmernd zusammenbreche, ist, wie sich mein Blut mit giftgrünem
Erbrochenen mischt, einen kleinen See zwischen meinen beiden Händen
bildet und mir dann durch die Finger hindurch, auf den schmutzigen Boden
rinnt.