Kalter Regen peitscht mir ins Gesicht, der Sturm lässt mein
Halstuch durch die Luft fliegen und meine Beine knicken bei jedem
Schritt auf dem nassen Asphalt zur Seite weg. Als ich mit meiner Hand
nach dem kalten Metallgeländer greife, zuckt ein Eisblitz durch
meinen Arm hindurch bis tief ins Herz hinein.
Vorsichtig streife ich meinen schwarzen Mantel ab, falte ihn und
lege ihn umsichtig an den Rand der Brücke, dann ziehe ich mir
Pullover und T-Shirt über den Kopf und lege beides ebenfalls
gefaltet auf den Mantel. Ein kleines, kaum sichtbares, schwarzgraues
Quadrat. Meine Gürtelschnalle klimpert und mit leisem Surren löst
sich der seit Jahren getragene Ledergürtel von meiner Hüfte und
fällt auf den Boden. Obwohl sich alle Haare meines Körpers
aufgestellt haben und der Wind mir über den Rücken streicht, ist
mir nicht kalt. Alles, was ich wahrnehme, ist ein dumpf dröhnendes
Summen in meinem Trommelfell. Ich fluche nicht mal, als ich bei dem
Versuch, mir meine viel zu enge Hose über die nassen Beine zu
ziehen, umkippe und mir den Kopf unschön auf dem Asphaltboden
aufschlage. Ich schlüpfe vorsichtig aus meinen Schuhen, ziehe mir
die regennassen Socken von den Füßen und blicke dann auf das
Quadrat vor mir auf dem Boden. Es ist mir einfach seltsam egal, nicht
mehr und nicht weniger.
Meine zerzausten Haare flattern wahllos durch die Gegend, erste
Teile meines schneeweißen Körpers verfärben sich langsam dunkelrot
oder veilchenblau. Sturm und Regen tanzen gemeinsam um mich herum
und ein gewaltiges Beben, dessen Epizentrum ich zu sein scheine,
bringt die gesamte Brücke zum Schwanken.
Ein letzter Blick nach
oben, ich lege den Kopf in den Nacken und ein Sturzbach aus
Regenwasser plätschert auf den Bordstein, während über mir
nachtschwarze Wolken vorbeiziehen. Es ist, als würde man in ein ewig
waberndes schwarzes Loch blicken.
Niemand der unmittelbar hinter mir vorbeieilenden Passanten macht
Anstalten etwas zu unternehmen.
Niemand scheint sich an dem nackten Jungen zu stören, der an
einem verregneten Donnerstagnachmittag auf dem Geländer der
Kennedybrücke sitzt und Löcher in die Luft starrt.
Ein letztes Mal küsse ich das Foto von dir, das ich seit Jahren
in meinem Portemonnaie mit mir herumtrage, dann beginne ich langsam
meine Augen zu schließen.
Der Horizont wird schmaler und schmaler, bis nur noch der
Posttower als letztes, winziges Licht am Ende des dunklen
Tunnelblicks verbleibt. Ich atme ein und meine Gedanken beginnen
abzuschweifen:
Ich denke an längst vergangene Sommerwochenenden in der Rheinaue;
ich denke an die ewig pulsierende taube Einsamkeit;
ich denke an das Gefühl von Schwerelosigkeit;
ich denke daran, wie das Schwimmbecken immer näher kam, als ich als
Kind an heißen Sommerferientagen im Freibad vom Sprungbrett sprang;
ich denke an die wundervollen Gespräche mit all den Menschen, die ich auf den Parkbänken am Rheinufer zu meiner rechten
geführt habe. –
Ich denke an das flackernde Licht der Neonröhre über mir;
ich denke an den Bastard, der die Firma betreibt, die diesen
kaputten Kugelschreiber hergestellt hat, mit dem ich mühsam versuche
meine Gedanken aufzuschreiben;
Ich denke, ich hasse mich selbst so sehr, dass ich am liebsten tot
wäre.
Doch egal wie sehr ich von Trauer und von Hass zerfressen bin,
irgendetwas hält mich in diesem Leben,
zerrt mich von diesem Geländer hinunter,
wickelt mich in ein warmes Handtuch und gibt mir einen heißen Tee,
ohrfeigt mich und schreit mich an,
nimmt mich in den Arm und trocknet meine Tränen,
trägt mich in mein Bett und küsst meine Stirn,
legt mir die Hand über die Augen und summt mir aus der Ferne
bittersüße Melodien ins Ohr,
bis ich tief und fest eingeschlafen bin.