Freitag, 13. Dezember 2019

Mit der Welt auf den Schultern

Mir ist irgendwann ein Mitbewohner namens Atlas zugelaufen. Er stand nachts betrunken vor der Tür und sagte, die Welt sei voll von Monstern. Seitdem lebt er in meiner Textschublade und scheint sich dort, zwischen Spinnweben und vergilbten Gedanken, recht wohl zu fühlen.
Manchmal, wenn ich in den Spiegel schaue, lächelt er zaghaft zurück und wenn ich am Montagmorgen zu schwach zum Aufstehen bin, schleicht er für mich aus der Wohnung – trifft Freunde und Familie, sitzt verschnupft im Hörsaal rum.
Eigentlich verstehen wir uns gut; auch wenn er nichts als Rotwein trinkt und ständig blutrote Flecken auf dem Holzboden hinterlässt, die sich zunehmend zu einem Meer ausbreiten. Ich habe ihn noch nie essen sehen und immer, wenn ich nachts wach werde, steht er in der Zimmerecke und starrt mich an oder sitzt rauchend auf der Fensterbank.
Einmal hat mir Atlas »von früher« erzählt und mich ratlos angeschaut. Da habe ich schnell gesagt: »ich verspreche Dir, dass ich Dich beschützen will!«, sein Gesicht war dann ganz weiß und ich musste plötzlich ein paar Tränen unterdrücken. Er hat mir die Hand auf die Schulter gelegt und kurz sah ich im Innern klar und deutlich einen Eiskristall.

Ich bin manchmal traurig, weil Atlas zu viel trinkt und tagelang besoffen durch die Großstadt zieht. Zu Hause redet er von Liebeskummer oder liegt regungslos im Lesesessel; daneben leere Rotweinflaschen und Texte von Bukowski, Fauser, Hemingway.
»He!«, rufe ich dann, »Du machst schon wieder Flecken auf die Bücher!«, doch da ist er meistens eingeschlafen und zittert unruhig vor sich hin.
Wenn er so erschöpft wegdöst, muss ich seine Schicht im Amüsierbetrieb der Nacht übernehmen: Trinken, reden, rauchen. Kneipe, Gosse, Bahnhof. Alles durcheinander.
Es wundert mich ein wenig, dass niemand bemerkt, wenn wir einander vertreten. Als ich neulich im Café war, hat mich eine Kellnerin neugierig mit ihren Haselnussaugen angeschaut und sich schnell weggedreht. Ich kann dann nur erahnen, was Atlas letzte Nacht gemacht hat. Das mit den Frauen und ihm ist ein bisschen kompliziert.

Es ist ein anstrengendes, aber auch ein schönes Leben. Wenn Atlas nicht gerade zu nah an Dach- und Bahnsteigkanten schwankt oder meinen Besuch mit seinen Sauf- und Gruselgeschichten vergrault. Er wird sofort nervös, wenn man ihn nicht am laufenden Band beachtet und mit seiner Selbstsucht und seiner Kindlichkeit erinnert er mich manchmal an einen betrunkenen Waschbären.
»Weißt Du«, sagte Atlas einmal, »ich mag Dich wirklich gern«, dann wurde er ganz rot und stolperte hustend durch den Raum. Überall entstanden noch mehr Rotweinpfützen.

Ich habe keine Ahnung, wo Atlas herkommt und was genau er macht (außer rauchen und trinken und reden), aber wenn er zu müde ist, vor die Tür zu gehen und ich seine Schicht übernehme – dann denke ich mir manchmal, derweil die ersten Tauben auf den Dächern gurren, beim letzten Bier am Bahnhof, dass ich froh bin, dass er da ist.

Sonntag, 8. Dezember 2019

Glühwein zum Frühstück

Es ist nicht das Rausch-
sondern vielmehr: das Spiegeltrinken,
das mich seit Herbstbeginn so stur in seinen Fingern hält.

Mit leichter Schlagseite zum Postkasten schwankend,
den Brief an das Finanzamt in der Hand,
dass man mich jetzt wohl einen »Schriftsteller« zu nennen hat.

Der Vollmond hinter Wolkenfetzen versteckt,
das Denken ruhig und klar
– ein seltsam schöner Augenblick.

Dienstag, 12. November 2019

Fetzen II

Am frostigen Nachthimmel hört man die Zugvögel kreischen.
Ich stehe an der Heizung, deren Wärme wie
aufkochende Milch zu mir hochsteigt.

Staub bedeckt den Zimmerboden
und vor dem Fenster droht
die Außenwelt.

Fetzen I

Die Mückenschwärme am Rheinufer bilden Säulen,
die zitternd Richtung Himmel steigen.
Alle siebzehn Schritte eins dieser flimmernden Gebilde.

Ein Spätsommerabend in der ehemaligen Hauptstadt,
der, angefüllt mit Rotweinträumen,
beinah aus allen Nähten platzt.

Die Welt ist voll von Möglichkeiten.
Zumindest jetzt
und hier.

Samstag, 2. November 2019

Zweisamkeit

Wir haben auf einer Parkbank am Rhein gesessen und geredet, an irgendeinem Frühlingssamstag, als die allerersten Blütenpollen zitternd durch die Gegend stoben und im Hintergrund ein leises Niesen zuckte. Aus den Wiesen wuchsen bunte Menschenberge und das Gespräch kam auf den Umstand, dass man immer irgendwie entfremdet ist, selbst vom allerbesten Freund: Da bleibt stets dieser Schleier, das Wachs auf dem Gesicht, ein Glaskristallgebilde zwischen allen Menschen.
Und wie wir so dort saßen, zu viel billiges Bier tranken und noch mehr schlecht gedrehte Kippen rauchten, da ging uns irgendwann wohl auf, dass man das gar nicht ändern kann; man im Kern halt ist, wie man so ist, und wir dennoch prächtig beieinander sitzen, selbst wenn Stirnfalten Schatten werfen und ein schweres Seufzen durch die Worte zieht.
Es scheint, Erwachsensein bedeutet, nicht zwanghaft nach dem Sinn zu suchen – sagst Du und schielst mit trübem Blick an mir vorbei –, nicht dauerhaft nach seinem »wirklich wahren Ich« zu fragen, sondern vielmehr, einfach einzusehen, dass es da immer Menschen geben wird, die neben Dir und um Dich rum ihr Dasein fristen und Dir voll von herzgebroch'ner Ehrlichkeit vermitteln wollen: Es ist schon okay so, wie Du bist.
Ich schaue angestrengt zurück und nicke kurz. Alles in mir drin vibriert. Seltsam wirklich scheint das Himmelblau. Dann lache ich und sage nichts – und hoffe, dass Du weißt, dass ich trotz allem dankbar bin, dass Du bis heute an den Wert von meinem Leben glaubst, mir mit Deinen schönen Worten eine Art Zuhause baust.

Und an dieser Stelle könnte der Text auch eigentlich vorbei sein.
Doch wie das Leben so spielt, kam aus dem Nichts die Einsamkeit. 
Bis ich erneut zu denken und erneut zu fühlen anfing.
Und irgendwann kamst wieder Du.

Wir haben über Freiheit geredet, durch die Weinberge des Ahrtals wandernd, an irgendeinem Sommersamstag. Und es fühlte sich ernüchternd an, die Wirklichkeit zu seh‘n: Dass es da vorerst nichts zu retten gibt, als das Recht darauf, Person zu sein.
Spätnachts hast Du mir dann gesagt, dass Du mich in der Zukunft siehst, wie mein Potential dort Wurzeln schlägt. Worauf ich nervös zu dementieren anfing: Dass ich seit langem schon nicht handeln kann, bloß stumpf und still im Leerlauf leide. Da meintest du, lakonisch, wie Du bist, dass ich ja dennoch denken kann.
Das stimmt. Ich habe mir Gestalt gegeben, bin ein Teil von dieser Welt geworden: Vom Luftschlosstraum zur Wirklichkeit. Das ganz abstrakte Alles-nur-vernichten-Wollen scheint bloß blass am Horizont.
Und Du schaust mich schweigend an, sodass ich glaube, mir zu wünschen, dass Du verstehst, was in mir tobt. Ein Zustand seltener Verbundenheit: Bei Dir bin ich ich selbst und denke, dass das wertvoll ist und bleibt.

Wir haben über das Nichts geredet, als wir an irgendeinem Herbstsonntag durch blutigrote Buchenwälder streiften. Du hast Dich bei mir eingehakt und mir gesagt, dass Du Dich bei mir sicher fühlst. Da musste ich an früher denken und war kurz ein bisschen traurig.

Und wir haben auf Deinem Balkon gesessen und stumm die Plattenbauten angestarrt, am aller tiefsten Wintertag; der Horizont ein Meer aus Schnee. Weit unten zogen kleine Menschenwesen Spuren durch das Weiß. Um uns herum ein Netz aus Tabakqualm. Wir beide eingewickelt in dicke Stoffdecken.
Für einen Augenblick, da stand die Zeit still. Ein bisschen Glück lag in der Luft.

Am Ende bin ich eingeschlafen. Betrunken vor lauter Liebe. Für Dich. Und für die Welt.

Herbstkirmes

Als wir uns letzten Herbst das erste Mal getroffen haben,
stand ein Riesenrad in Deutz,
ich war ein bisschen aufgeregt und hüpfte hektisch auf der Stelle,
weil ich den Jahrmarkt so sehr liebe.
Da meintest Du, dass Dich das langweilt und wir spazierten
stattdessen im Nieselregen den Rhein entlang,
bis uns kalt wurde,
wir uns in ein Café setzten
und für einen Augenblick die Zeit verschwamm.

Diesen Herbst stehe ich betrunken in der ersten Klasse
irgend eines menschenleeren Regionalexpress,
vor dem Fenster dichtes Schwarz
und manchmal Industrieschornsteine.
Bremsen quietschen schrill,
verbranntes Gummi in der Luft.
Ich bin rehabilitiert
– denke ich,
eigentlich macht es mir nichts,
jetzt wieder hier
in Deiner Stadt
zu sein.
Eigentlich.

Freitag, 18. Oktober 2019

Zweite Erinnerung

Das neugebaute Haus ragt stolz gen Himmel.
Ihr seht so schön und glücklich aus
darin.

Doch mir fehlt die kleine Küche
mit den kalten Fliesen
auf denen ich als Kind verstört und barfuß rumstand,
wenn ich etwas Apfelsaft
aus dem laut knackend die Stille zerschneidenden
Kühlschrank stibitzte
um mich über Albtraumfetzen wegzutrösten,
die da wild im Kopf, im Herz und in der Seele zuckten
– wie ein Karpfenteich bei Blitzeinschlag.

Bis die Katze angetigert kam,
ich sie eilig hochhob und
irgendwann
noch immer zitternd
lachte
– sie erst schnurrte,
dann laut fluchte und
schließlich wütend fauchend wegsprang.

Am Himmel ein Sternenmeer,
darunter, endlos weit: Wälder, Bäche, Felder.
– Die Welt in friedlichem Schneewittchenschlaf,
irgendwo am Rande von Sankt Augustin,
so gegen 1999.

Dienstag, 13. August 2019

Laurentiustränen

Nichts birgt mehr Frieden auf der Welt
als das Geräusch
wenn sich der Andere spätnachts
(vielleicht auch früh am Morgen)
eilig wieder zudeckt und zurück
in schwere Träume flieht –
dann schneller, flacher Atem.

Wir sind im Heimatdorf gewesen –
weit oben glühende Kometenreste, die
laut Volksmund, Glück verheißen
doch hinter dichten Regenwolken
nicht mal vereinzelt sichtbar waren.

Ein Dritter hat heut seinen Todestag.
Beides ziemlich traurig.

Montag, 24. Juni 2019

Zwei Ungerechtigkeiten und eine Menge Wut

Ein junger Mann sitzt in der Innenstadt. Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Haut spannt auf spitzen Knochen. Im Kopf nur fieberhafte Wut.
Direkt daneben wird ein Einkaufszentrum gebaut: Wo zuletzt – und eigentlich schon immer – Menschenmassen mit großen Pfandflaschensammeltüten und Bergen aus geleerten Kästen Billigbier rumsaßen, da steht heute ein Wachmann in grüner Weste und trägt eine Sonnenbrille wie die Polizisten in den USA – nun, zumindest wie die Polizisten in den Filmen, die er abends so gern auf seinem Sofa sitzend schaut. Dabei trinkt er kaltes Bier. Drei Flaschen, dann schläft er ein. Wenn er morgens wach wird, brummt sein Schädel und der Fernseher flackert.

Am Bahnhof wurden die Mülleimer ausgetauscht und haben jetzt Solarzellen eingebaut, bemerkt der Wachmann, stark verkatert zur Arbeit schleichend.
Auf die Frage, wofür die gut sein sollen – also die Solarzellen – und warum die Stadt denn überhaupt neue Mülleimer braucht, entgegnet der zuständige Sachbearbeiter, ein wenig widerwillig vielleicht, dass man aus diesen knallroten Blechvierecken, die witzig vor sich hin blinken und ein bisschen Strom ins Netz einspeisen, jetzt kein Pfand und keine Essensreste mehr rausholen kann. Eine Klappe, wie bei einem Kleidercontainer, verhindert das. Weil das unmenschlich sei. Weil man das niemandem zumuten könne, so leben zu müssen. Deswegen wird das jetzt auch unterbunden.
Da freut sich der Sachbearbeiter: Das hat man gut gelöst, findet er. Einen wichtigen Beitrag zum Umweltschutz nennt er das.
Verrohung der Gesellschaft sagt der junge Mann dazu.

Die Menschenmassen und ihre Pfandflaschensammeltüten sind verschwunden. Allein der Wachmann in seiner grünen Weste steht noch da und schaut den jungen Mann argwöhnisch an. Der zuckt nur müde mit den Schultern. Sonst ist niemand auf dem Platz.
Es beginnt zu regnen. Der Wachmann denkt an sein Bier und seine Filme, dann setzt er seufzend die Sonnenbrille ab. Der Andere sucht Unterschlupf vor den Regentropfen und schlendert in Richtung der U-Bahn-Haltestelle. Seine beiden Beine staksen stumpf die Stufen runter. Es riecht nach Schnaps, Urin und Tabak. Vereinzelt sitzen zerfetzte Seelen im Dreck und fragen nach Geld. An allen Ecken sieht – beziehungsweise: hört – man laut kreischende Kinder. Die Mütter lächeln dann ganz herzzerreißend, manche schreien auch zurück.
Bei dem Geschrei der Kinder muss der junge Mann an früher denken und kriegt Kopfschmerzen.

Er war ein Schlüsselkind: Der Vater irgendwann verschwunden, die Mutter bis spät abends auf der Arbeit, dann sediert vor dem TV.
Sie wohnten am äußersten Rand der Villensiedlung. Nach der Schule musste er zum Mittagessen in die großen weißen Häuser der anderen Familien. Dort hat man ihn geduldet, wie man Flüchtlinge toleriert, weil offen zuzugeben, dass man andersartige – in diesem Falle: mittellose Menschen – und alleinerziehende Mütter als schmarotzendes Gesindel sieht, auch in gut betuchten Kleinstadtkreisen noch immer nicht als schicklich gilt.
Sein Haus war karg und schief und die Fassade ein Dickicht aus wild gewachsenen Efeuranken, in denen im Frühjahr eine Hand voll Amseln nistete und sich dort oben vor den gierig umherstreunenden Straßenkatzen versteckte.
Das fand er eigentlich viel schöner als die strahlend weißen Villenbauten: Vor denen standen nur viereckige Platanen in grauen Kieselsteinquadraten.

Er saß dann mittags an einem endlosen Küchentisch. Der Kühlschrank hatte stets zwei Türen und in eine von beiden – in der Regel die rechte – war eine Eiswürfelmaschine eingebaut. Die fremde Mutter schwieg. Der fremde Vater musterte ihn misstrauisch. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Haut spannte auf spitzen Knochen. Im Kopf nur fieberhafte Wut.
Er sagte dann kein Wort und kratzte mit der Gabel auf dem Teller rum oder starrte auf den Boden.
Es wäre gut, unsichtbar zu sein, dachte er dann oft.

Jetzt sitzt der junge Mann im U-Bahnhof unter dem neuen Einkaufszentrum; oben verwirrte Pfandsammler ohne Pfand und rote Blechvierecke, die den ärmsten der Armen selbst noch weggeworfene Essensreste vorenthalten.
Und wenn auch hier unten ein kalter Wind weht, kann er nicht aufhören, an die marmornen Wolken zu denken, die sich am Himmel traurig selbst zerfleischen und dass er ein Schlüsselkind war und wie groß und seltsam die anderen Häuser waren und dass das alles stets bedrohlich schien und dann setzt sich dieser Mann mit Hut auf den Sitzplatz neben ihm und er schaut ihn misstrauisch an und würde am liebsten schreien. Schreien. Schreien. Immer weiter schreien, bis ihm die Lunge aus dem Hals raushängt.

Wenn die Menschen doch nur wüssten. Wenn er sich trauen würde, zu sagen, was er denkt und was er fühlt: Über die neuen Mülleimer und seine verkorkste Kindheit und dass immer alle unglücklich sind.
Dann würde er dem Sachbearbeiter sagen, dass sein Begriff von Menschlichkeit pervers ist und dass er ihm ein Leben auf der Straße wünscht; dann würde er den Leuten in den Villen sagen, dass sie bitte an ihren saublöden Eiswürfelmaschinen und ihrer ekligen Moral ersticken sollen; dann würde er seiner Mutter sagen, dass sie alles gut gemacht hat und dass die Wut nicht daher kommt; dass die Wut in Wahrheit daher kommt, dass es Menschen gibt, die gar nichts am allgemeinen Unrecht ändern wollen.
Dann würde sich sein Brustkorb heben und senken. Dann würde Haut auf spitzen Knochen spannen. Und im Kopf, da wäre endlich keine Wut mehr, sondern nur noch dieser eine, unbedingte Wunsch: Seid bitte einfach menschlich zueinander.

Albtraum einer Stubenfliege

Atlas stand auf dem Marktplatz und starrte verschlafen in den Himmel. Ein Sturm war aufgezogen und hatte sich, mit den Rufen der Marktschreier vermischend, als schweres Tuch über die Stadt gelegt.
Es war ein merkwürdiger Nachmittag gewesen: Erst fiel in der ganzen Stadt der Strom aus, dann fing das Bahnhofsgebäude Feuer und schließlich hatte er sich den Fuß verstaucht, als er, auf der Gehwegkante balancierend, aus einem Augenblick der Unachtsamkeit heraus, das Gleichgewicht verlor. Dazu diese drückende Hitze! Das Wasser tropfte regelrecht aus allen Poren und die vereinzelt mit ihm in Aktion getretenen Mitbürger wirkten allesamt fürchterlich gereizt: Eine Kassiererin hatte die Augen verdreht und ihm die spitze Zunge rausgestreckt, als er ihr einen Haufen schweißdurchnässtes Kupfergeld auf den Tresen schüttete, und ein Busfahrer hatte ihn, ob seiner Trägheit beim Monatsticket-aus-der-Brieftasche-Kramen, verächtlich einen »Windbeutel« geschimpft.

Nun stand Atlas also auf dem Marktplatz, so frei von jeglicher Verpflichtung wie tief im Unwissen um den gegenwärtig waltenden Wochentag versunken. Lange schon – viel zu lange – war das geordnete Leben an ihm vorbeigezogen und funkelte, von dichten Nebelschwaden verschluckt, in der Ferne, wie ein kleiner Diamant am Milchglasgrund.
Stimmengewirr durchzog den Platz, im Hintergrund Donnergrollen oder wild geschüttelte Wellblechplatten.
Plötzlich durchfuhr ein Ruck seine Schulter.
Als er den Blick hob, blieb dieser unvermittelt an dem kantigen Porzellangesicht seiner Jugendliebe kleben.
Stille. Schnelle Atemzüge. Zungen zuckten hinter Zahnreihen. Dann hob Atlas an: »Victor? Bist Du nicht nach…?«
Ein klirrendes Lachen, wie Hagel, der auf halb gefrorenes Wasser prasselt. Victor legte Atlas‘ Kopf in seine bleichen Finger und küsste ihm forsch die Schweißtropfen von der Stirn.
»München. Ja, ich bin nach München gezogen, mein kleiner Seelenriese. Dein Hirn scheint also noch halbwegs zu funktionieren. Es überrascht mich übrigens recht wenig, Dich immer noch hier anzutreffen, es wäre wirklich ein Wunder, hättest Du es auch nur einen Meter aus der Heimatstadt rausgeschafft.«
Plötzlich war da dieses Stechen, inmitten eines Seelenkerns, den zu besitzen er doch sonst so vehement verleugnete; der nur bei Victors bösen Scherzen kurz zu krampfen anfing. Atlas hatte Angst vor Victor und schämte sich dafür.
Er schnaubte, kniff die Augen zusammen und erwiderte pikiert: »Es wäre ebenso ein Wunder, könntest Du mir zufällig auf diesem gottverdammten Marktplatz in die Arme laufen, ohne direkt klarzustellen, was für ein Mann von Welt Du doch geworden bist.«

Atlas war eine weiße Leinwand, ein Mensch ohne Eigenschaften – Victor ein Gesteinsbrocken, der auf die zertrümmerten Unterschenkel eindrückte und einen am Fortlaufen hinderte.
Das war schon immer so gewesen, auch damals, als sie sich als Schüler kennenlernten.
Victor hatte stets auf Atlas abgefärbt, der alles – jeden Blick und jede Geste – wie ein Putzschwamm aufsog.

Ein Mädchen, vielleicht neunzehn Jahre alt, stapfte, lustlos auf einem Kaugummi herumkauend, durch die beiden schwarz gekleideten Gestalten, sodass sie einen Schritt nach hinten treten mussten. Atlas schaute hektisch hinterher.

Als Kind hatte er stets stumm am Rand gesessen und den Rest der Welt beobachtet, mit einem schmerzhaft stumpfen und doch nachdenklichen Gesichtsausdruck, der seine Lehrer bis zuletzt ratlos zurückließ, ob ihn das nun als besonders begabt oder als besonders beschränkt auswies.
»Hallo, hier bin ich!« – der Blick erneut an Victors spitzer Nase klebend, begann die Welt für einen Augenblick zu zittern.
Beide waren sie Waisenkinder. Atlas sagte stets, er käme in Wahrheit aus dem Wald und Victor scherzte dann, er sei aus dem Himmel hinabgestiegen, um der Menschheit Erlösung zu bringen. Notfalls mit dem Schwert.
»Komm, Du Trauerkloß; ich finde, Du solltest bei einer Tasse Kaffee beteuern, wie sehr ich Dir gefehlt hab.«
Atlas schluckte – vergebens; sein ganzer Mund war speichelleer.
Victor rotierte lachend um sich selbst und setzte seine Spinnenbeine in Bewegung. Kurz drehte er den Kopf nach hinten und zwinkerte Atlas zu. Der trottete wie mechanisch hinterher.
Irgendwo geriet eine Fliege in ein Netz.

Das Café war voll von Tabakqualm. Schemenhaft bewegten sich schöne, große Menschen durch den Dunst. Im Hintergrund Klaviermusik.
Victor setzte sich breitbeinig auf einen Sessel, sein Gegenüber fiel steif auf einen Stuhl.
»Also«, Victors Stimme durchschnitt den Raum, »bist Du momentan verliebt?«
Atlas starrte stumpf durch ihn hindurch.
»Nun schau mich schon nicht an wie einen Fremden, gerade ich hab ja wohl ein Anrecht darauf, zu erfahren, wohin das Herz von meinem Seelenriesen wuchert. Sag, an welchem Ufer schlägst Du gerade Deine Triebe, zartes Pflänzchen?«
Victors Gesicht war zu einer verzerrten Fratze zerlaufen.
Atlas trommelte mit beiden Füßen auf den Boden, »hör mal, Victor, ich weiß wirklich nicht…«, an der Decke kreiste ein Ventilator, die Luft schmeckte säuerlich, »ich weiß wirklich nicht, was Du hier willst, und ehrlich gesagt, würde ich jetzt gerne nach Hause.«
Zwei rote Augen blitzten Atlas böse an.
»Nur zu, ich halte Dich nicht auf, die Zeiten sind vorbei. Du musst selber wissen, was Du willst.« 
»Ich hab Dich geliebt, Victor.«
Die Fliege zuckte verstört mit den Beinen.
Victor schürzte die Lippen, »nun, kein Grund direkt sentimental zu werden: Jetzt bin ich ja wieder da!«
Atlas überlegte, aufzustehen, blieb dann aber sitzen und starrte Victor mit feuchten Rehaugen an. Ganz klein war er geworden, saß winzig auf dem Stuhl herum und griff mit einer Hand die andere. 
Victor schaute zu Atlas hinunter und sprach, langsam und betont, sodass die Worte wie aus Wachs zu ihm hinabtropften: »Ich. Bin. Jetzt. Wieder. Da.«, sein Kopf stieß mittlerweile an die Zimmerdecke, die auseinandergestreckten Arme bildeten einen Horizont.
»Der Abend auf der Aussichtsplattform…«
Victor zischte gereizt: »Ach, Du dumme Gans! Nichts hast Du verstanden!«
Atlas‘ Adern schwollen an. Nicht einen Brief. Nicht einen einzigen Brief hatte er erhalten.
»Ich wusste nicht, ob Du tot bist, Victor.«

Siebzehn Jahre waren sie alt gewesen, als sie auf eine Aussichtsplattform stiegen, von der aus man die rot blinkenden Schornsteine der Industrieanlage und die glühenden Fenster der umliegenden Hochhausbauten sehen konnte, um im Vollmondschein eine Handvoll Tabletten zu schlucken. Sie hatten entschieden, dass sie keine Personen sein wollten, dass das Leben nicht lebenswert sei. Ganz nüchtern hatten sie das – zu zweit und jeder für sich – entschieden.
Victor war am nächsten Morgen verschwunden, Atlas hatten sie den Magen ausgepumpt und ihn für ein paar Wochen weggesperrt. Jahre später las er dann, dass Victor wohl als Fotograf in München lebte.

Atlas hatte niemals Ekel, Abscheu oder Zuneigung für irgendetwas oder irgendwen empfunden. Victor hatte erstmals eine Art von Gier in ihm geweckt.
Als dieser beiläufig bemerkte, dass er der Meinung sei, sie sollten sich das Leben nehmen, gab Atlas keine Widerworte.

Am Ende wurden sie schweigsam. Selbst das Denken stand still. Stumm saßen sie für ein paar Tage beieinander; dann stiegen sie zur Aussichtsplattform auf.
Es hatte gestürmt an dem Abend. Der Himmel war schwarz, bis auf den Vollmond.
Sie hatten sich angelächelt – dann waren sie eingeschlafen.
»Alles gut bei Euch, braucht Ihr noch irgendwas?«, eine Bedienung war zu ihnen an den Tisch getreten und hatte, hektisch auf der Stelle wippend, mit zarter Stimme nachgefragt; ein Gesicht wie eine Spitzmaus und Augen wie Haselnüsse.
»Alles bestens, danke!«, lächelte Victor breit zurück, worauf sie rot angelaufen nickte und eilig davonhuschte. Ein leises Rascheln war zu hören.
Die Fliege machte ein Geräusch wie Starkstrom, der die Leitung spannt.

»Nun, was soll ich sagen, Atlas, mein kaputtes Prinzesschen. Ich denke, ich habe Dich wirklich gemocht, damals. Aber Du solltest aufhören, in der Vergangenheit zu leben. Es ist an der Zeit, zu begreifen, dass es nicht meine Schuld ist, und auch nicht meine Schuld war, dass Du Dich selbst nicht kennst. Wir waren jung, ich fand Dich süß und alles war ein bisschen durchgeknallt. Jetzt sitzen wir hier, Du schaust mich verstört an und ich bin genauso genervt von Dir wie damals. Hör auf, Dich selbst als Anhängsel zu sehen! Es tut mir ja leid, dass es Dir scheinbar schlecht geht, aber wenn Du nicht lernst, loszulassen, dann hat Dein Leben keinen Wert.
Ich will Dir eine Geschichte erzählen: Romulus und Remus saßen einst auf einer Mauer und stritten darum, wer von beiden nun der Gründervater Roms sein sollte. Sie haben sich geliebt, wie Brüder sich eben lieben, und wie auch wir waren sie Männer ohne Geschichte. Nur dass der eine von beiden am Ende klug genug war, den anderen totzuschlagen, sodass eine so prächtige Stadt wie Rom erwachsen konnte. Nun stell Dir bitte einmal vor, die beiden Zankäpfel hätten sich ausgesöhnt. Was denkst Du, wie die Welt dann heute aussähe? Ohne römisches Reich, ohne die Heldentaten der Alten? – Buchdruck, Aufklärung, fliegende Autos, Unsterblichkeit – das wäre alles nichts geworden. Also hör endlich auf, mich anzustarren wie ein Hund und entscheide Dich, Atlas! Du musst Dich entscheiden!
Ich wollte Dir helfen. Meine Tabletten waren wirkungslos. Ich habe vier Dutzend Placebos geschluckt. Wer hätte denn wissen können, dass Du am nächsten Morgen wieder wach wirst, Du seelenloser Klumpen Mensch. Ich wollte Dir die Freiheit geben, erstmals einen eigenen Entschluss – den einzig richtigen für Dich – zu fassen.«

Das Spinnennetz war gerissen. Die Fliege flog verwirrt davon.
Atlas erhob sich. Er blickte stumpf in Victors versteinertes Gesicht.
Dann schwankte er zur Tür und stolperte ins Freie. 

Die Tage werden wieder kürzer

Atlas ist heute traurig gewesen.
Er hat seinen Kopf auf meine Schulter gelegt
und mir ein bisschen von früher erzählt.

Mittwoch, 22. Mai 2019

Der Grundzustand der menschlichen Existenz

Bonn ist die Stadt, in der man immer auf irgendetwas wartet: Darauf, dass der Bus kommt, die Straßenbahn oder das Wochenende, ein beliebiges Ereignis, irgendeine neue Bekanntschaft oder dass die Bauarbeiten endlich enden.

Unlängst fiel mir auf: Über der ganzen Stadt, da schwebt – weit oben in den Wolken – eine Milchglaskuppel der Lethargie, und zähflüssig tropft die abgestandene Luft durch die Gassen, sodass alles zeitlupenartig dahinfließt: Die endlosen Ströme der durch die Hofgartenanlage flanierenden Spitzbuben, eingehüllt in dicke Wolken aus Bluetooth-Boxen-Deutschrap und Grasgeruch, direkt dahinter ein Tross knallbunte Alkoholmischgetränke schwenkender junger Frauen sowie endlich eine Parade aus Multifunktionsjacken umwickelter Kinderwagenkolonnen, umrahmt von rotköpfigen Hobbyleichtathleten; und unentwegt zieht dieser bacchantische Taumel von der Innenstadt in Richtung Rheinaue und zurück, – ohne Sinn und ohne Ziel – in der nervösen Hoffnung, dass irgendwann mal was passiert; tagsüber die gesamte Rheinpromenade einnehmend – wo bei Nacht leise die Bootstegtore knarzen und der Vollmondschein sich eitel in der glatten Wasseroberfläche spiegelt; vielleicht sitzt irgendwo, versteckt auf einer Bank, ein junges Paar und knutscht enthemmt, ein Fahrraddynamo rotiert vorbei, danach dichte Stille – sodass man für einen Augenblick den Wunsch verspürt, mit allem eins zu werden: Mit dem nassen, kalten Stein, an den weit unten dunkel der Rhein schwappt, dem stoisch aus der Ferne zuschauenden Siebengebirge und einer endlos goldgelb leuchtenden Laternenlichtallee.

Ein kleines Theaterstück, immerfort aufgeführt vor dem Hintergrund der längst erschlafften Erwartung irgendeines historischen Ereignis. Man ist wohl einfach rausgefallen aus der Weltgeschichte – zack! – und dann war’s das: Mauerfall, Wende, Umzug nach Berlin, Schluss.
Die ganze Stadt ist nunmehr durchzogen von verstaubten Relikten: Der Bundestag, das sinnlos gewordene Diplomatenviertel in Bad Godesberg und Konrad Adenauers private Fähre, die jetzt als Chinarestaurant verkleidet, behäbig auf dem Rhein treibt.

Diese drückende Ereignislosigkeit, das ewige Warten der Stadt, verschlug mich an irgendeinem lauen Sommerabend in die Bahnhofsgegend, als der Umbau bereits begonnen hatte und ich mich auf ein paar Bier und ein paar Zigaretten zu viel zu den Menschen setzte, die mir Spannenderes zu erzählen haben als das, was in den Büchern steht; sodass es sich ergab, dass ich am Sonntagmorgen in meinem grauen Mantel und den abgewetzten Lederschuhen auf der Steintreppe des sogenannten »Bonner Lochs« rumstand und in den schwarzen Himmel starrte. Zwei Bäume ragten dort nach oben. Es fuhren keine Bahnen mehr. Im Bahnhof hingen oder lagen oder saßen Jugendliche auf orangefarbenen Plastiksitzen; und der Drang ist groß, jetzt abzuschweifen und zu schreiben, dass sie alle gleich aussahen, für mich nichts waren als ins Gesicht gezogene Nike-Kappen und ein paar teure Turnschuhe in engen Trainingshosen, die Mädchen stark geschminkt und laut; und ich würde gerne schreiben, dass ich das – trotz allem – als fürchterlich vital erachte, dass ich finde, dass diese bleichen Gesichter, die vereinzelt in der Nacht aufblitzen und deren überraschtem Blick man ansieht, dass der Konsum von harten Drogen ein denkbar dummes Hobby ist, eine Art absurden Pulsschlag bilden, einer Stadt, die in sich selbst versinkt, träge leuchtet, friedlich schweigt.

Jetzt, wo die Bauarbeiten abgeschlossen sind, ich verwirrt im grell erleuchteten Einheitsschlauch des Bonner Bahnhofs herumstehe, das Leid der Menschen lieblos überschminkt ist, und ich – ratlos wie Buridans Esel – gar nicht weiß, welcher von beiden Backwerkfilialen ich nun mein Münzgeld in den Rachen werfen soll, – neben mir ein Vierundzwanzig-Stunden-Kiosk, den wirklich niemand mehr braucht, da die eigentliche Stammkundschaft von den seit kurzer Zeit patrouillierenden Wachleuten sofort verscheucht wird und ihr alter Stehplatz am Busbahnhof unversehens hinter notdürftig hochgezogenen Holzverschlägen verschwand – da bin ich froh, mich zurückerinnern zu können, in Bonn das Warten gelernt zu haben, da muss ich an die Ungewissheit der Baustelle, ja vielleicht sogar eine Art Vorfreude zurückdenken, als alles noch offen stand, da spüre ich die Bonner Ziellosigkeit dankbar durch die Glieder schlurfen, lache müde und frage mich entspannt, was wohl als Nächstes nicht passieren wird, in dieser schrecklich schönen Halbschlafstadt.

Samstag, 11. Mai 2019

Ein Abend in der Schlangengrube

Ich hab die Außengrenze nachgezogen,
meine Eisprinzessin
an ihrem Hals aus Glas gepackt und
bin für einen flachen Atemzug
in dem verträumten Vollmondblick versunken,
der sich, durch mich hindurch, ins Nichts verliert;
ich hab mit Worten wie ein Hagelschauer
versucht, vergangenes Versagen
zu verdecken,
so gut es geht so etwas wie ein Mensch
zu werden und zu bleiben.

Die Welt ist rostendes Metall,
meine langen Spinnenbeine werden Stein,
derweil der zaubergiftverseuchte Geist –
als halb zerfall'nes Riesenrad –
verschwommen durch die Wolken streift.

Samstag, 16. März 2019

Bilsenkraut

Ich will den Worten ihren Wert wiedergeben, die verfangen im Stacheldraht der Wirklichkeit ihr dröges Dasein fristen, tagein tagaus von unbedachtem Geist getreten – derweil ich im Rotweinozean ersaufe, käferartig durch die Wohnung krieche. Die Zimmerdecke wächst ins Grenzenlose, mein Dasein hier verflüchtigt sich: tropft leise aufs Papier – dem allerletzten Herbstlaub gleich – von feuchtem Schnee bedeckt.

Ein Tintenschwall schwappt aus dem Kopf, in den mir stur der Vollmond sticht. Irgendwann dann geht die Sonne auf. Der Raum randvoll mit Licht und Staub und Einsamkeit. Vor dem Fenster zucken Schatten, im Hausflur flüstern Stimmen.
Wie ein Reh im Scheinwerferlicht, wie ein Fuchs in der Falle, rotiere ich verstört auf der Stelle, verletzt in Decken und Kissen versunken. Meine meilenweite Bettenburg – mein kleines Dornenkronenkönigreich verschluckt mich ganz und spuckt mich aus, in Richtung stark verzerrter Außenwelt.
Das darf doch nicht mein Leben sein. Ich springe wie getreten auf und stolper hektisch vor die Tür. Der Flur ist stumm und leer. Die Welt zieht dicke Fäden, verschwimmt grob an den Rändern – indes der Rhein als träges braunes Einerlei ganz langsam durch die Straßen fließt.

Zwei Beine staksen stumpf zur Straßenbahn, darauf folgt eine nervenüberreizte Fahrt.
Es ist Freitagmittag, meine ich, vor dem Universitätsschloss stehend, in dem ich glaube zu studieren. Ein Spätwintersprühregen setzt die alte Hauptstadt unter Wasser und Studenten treiben plump umher. Kirschblütenstürme wirbeln wütend durch die Luft.
Den zerknüllten Seminarplan in der bleichen Hand, fragt ein komplett durchnässter Erstsemester, ob ich mit mir im Reinen sei, dann treibt er weiter Richtung Horizont – und langsam überkommt mich das Gefühl, in einem wirren Traum versackt zu sein. Mein Bewußtsein strampelt hoffnungslos nach vorn, ringt wie im Fieberwahn nach Luft.

Stille. Dann ein lauter Knall. Ich erwache schweißdurchnässt. Die Stelle neben mir im Bett ist leer, bis auf ein kleines bisschen Traurigkeit. Vor dem Fenster bleckt der Vollmond seine Zähne, der Himmel blutverschmiert.

Samstag, 9. März 2019

Der traurige König von Schloss Pilsener

Ich erwache aus unruhigen Träumen. Der erste Sinneseindruck, der sich meinem Gesichtsfeld aufdrängt, ist folgende Erkenntnis: In meinem Lesesessel liegen drei geleerte Dosen »Schloss Pilsener« herum. Ganz verwahrlost und zerknittert stechen sie in den sonst so ruhigen Raum hinein, hierin meinem Sorgenfalten zerfurchten Antlitz nicht ganz unähnlich, das scheel in Richtung der vereinsamten Pfanddosen starrt, sich scheinbar danach sehend, auch endlich erneut im Lesesessel zu liegen, vielleicht ein gutes Buch zur Hand zu nehmen.
Neben den drei Dosen befindet sich ein Korken, von einem vermutlich verschollenen Wein, den letzte Nacht getrunken zu haben, ich mich nicht so recht entsinnen kann; der wohl aber, meinem prekären Naturell gemäß, in derselben Preisklasse angesiedelt sein sollte wie das widerwärtig dunkelgrün gemusterte »Schloss Pilsener«.
Ein Bier übrigens, das in der durchschnittlichen Onlinebewertung mit nur vier von zehn Punkten abschneidet. Menschen, ehrlich gesagt: zumeist Männer, die ihren ausufernden Bierkonsum per pedantischem Onlinetagebuch dokumentieren und quasi-hauptberuflich romanlange Rezensionen zu sämtlichen Biersorten verfassen, sind eine außerordentlich seltsame Spezies des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Der Kopf dröhnt, die Lunge pfeift und im Hals hat sich ein beunruhigendes Kratzen ausgebreitet. Ich drehe mich umständlich auf die Seite und finde, ordentlich neben dem Bett drapiert, artig Spalier stehend, eine ganze Armada »Schloss Pilsener« Dosen vor, unterdessen ich eine latent ansteigende Beunruhigung beim Gedanken daran verspüre, den Blick weiter durch den Raum schweifen zu lassen. Bedingt durch die genauso präreflexive wie vermutlich schmerzhaft zutreffende Befürchtung, dort einige weitere fies ins Auge stechende Dosen »Schloss Pilsener« in diabolischem Dunkelgrün vorzufinden.
Ich stehe schwankend auf. Beim ersten wackeligen Schritt nach vorn ist ein lautes Schmatzen zu vernehmen: Die Füße sind in einer Pfütze, die frisches Blut, altes Bier oder billiger Rotwein sein könnte zur Hälfte eingesunken und kleben geblieben. Völlig festgetackert stehe ich im Raum herum: Alles voll von leeren Dosen und angstgefülltem Denken. Wie die Fliege im Spinnennetz im ekligen Morast versinkend, ergebe ich mich meinem Schicksal. Bis in der Zimmerecke schlagartig ein blutrotes Augenpaar aufblitzt, worauf der Körper hektisch einen Satz nach vorn macht und unbeholfen ins Badezimmer stürzt.

Völlig verkatert auf den kalten Fliesen liegend, tut sich dem getrübten Blick ein seltsames Holzelement auf, dessen Funktion mir genauso schleierhaft ist wie seine Herkunft. Der Sinn der Konstruktion könnte darin bestehen, dass man ein Handtuch unterlegt, um nach dem Duschen draufzutreten. In dem Holz befinden sich Spalten oder Rillen, durch die das Wasser nach unten abtropfen kann.
Ich liege also für unbestimmte Zeit auf dem Boden und das grelle Neonlicht der Badezimmerlampe flackert unbarmherzig vor sich hin.
Die gesamte Wirklichkeit kulminiert in dem absurden Umstand, dass ein kleines Pflänzchen – ja tatsächlich, ein kleines, lebendiges Pflänzchen – direkt vor mir seine Triebe geschlagen hat und durch die Spalten des Holz hindurch ins absolut zerfetzte Badezimmer wächst.

Das ist wirklich ein Grad der Verwahrlosung, den man sich nicht mal mehr ausdenken kann. Es wird am besten sein, ich krieche bis Frühlingsanfang zurück ins Bett.