Freitag, 24. Januar 2020

Ein paar schöne Augenblicke

Wir haben oft in Deinem Keller gesessen und gezockt. Das James Bond Spiel von Deinem großen Bruder. Das war ab sechzehn und das haben wir immer heimlich gespielt. In Deinem Kinderzimmer hattest Du eine gigantische Legosammlung. Es gab da dieses eine Set mit einem großen Kraken und ein paar kleinen Ruderbooten und ich war total glücklich, jedes Mal, wenn wir damit gespielt haben, weil mein Lego nur aus bunten Steinen bestand, die unsortiert in einer roten Plastikkiste ihr Dasein fristeten. 

Ich erinner mich an Euer helles Wohnzimmer, mit dem vielen Holz an den Wänden und dem viereckigen Sofa, auf dem wir manchmal, nach der Schule, saßen und Zeichentrickserien geschaut haben, die damals – statt der heutigen, menschenverachtenden Pseudo-Doku-Soaps – nachmittags im Fernsehen liefen, und wo es zumindest um Freundschaft ging und darum, dass das Gute am Ende gewinnt. 

Ich erinner mich an den ausklappbaren Tierkäfig in Eurem Garten, in dem Ihr im Sommer die Hasen habt laufen lassen und dass wir daneben Fußball gespielt haben. Der Ball ist ständig über die Hecke, auf das Nachbargrundstück geflogen. Dann haben wir rumgedruckst, wer ihn holen gehen muss; aber am Ende bist immer Du gelaufen. 

Ich erinner mich, dass einmal bei Euch eingebrochen wurde. Das ganze Haus war verwüstet worden. Du hast als Erster das Chaos gesehen, als Du nach Hause kamst, und mir am nächsten Tag, kreidebleich auf dem bunt bemalten Schulhof stehend, davon erzählt. Am selben Tag hast Du mir zugeflüstert, dass Du Dich in Sophie verliebt hast, und dass sie aussieht wie ein Engel. Ich konnte dann ein paar Abende nicht gut einschlafen, weil ich ständig dachte, ich hätte gehört, wie ein Fenster aufgebrochen wird. 

Ich erinner mich an das Sankt-Martins-Fest im Herbst, als ich die Magen-Darm-Grippe hatte. Es war spät am Abend und überall flackerten blutrote Flammen durch das dichte Schwarz. Ein verkleideter Mann ritt auf einem weißen Pferd vorbei. Wie süß die Weckmänner geschmeckt haben – und der Kakao. Wie der Becher die unterkühlten Kinderfinger für einen Augenblick aufwärmte und sich beim Ausatmen kleine Wolken auftürmten, nur, um vom grellen Laternenlicht zerstochen zu werden. Wie die Tonpfeife, die der Weckmann in der Hand hielt, erst gut schmeckte, weil noch ein bisschen Teig dranklebte, und dann, beim Draufbeißen, plötzlich an den Milchzähnen wehtat. Was für ein eigenartiges Gefühl. Irgendwann kamen wir am Haus von Deiner Tante an und ich hab volle Kanne in die Einfahrt gekotzt. Ein Erwachsener hat mir dann Wasser gebracht und vermutlich war das alles ziemlich unangenehm. 

Mein Vater hat mich abgeholt. Ich erinner mich, dass ich das Wochenende bei ihm verbracht, entkräftet im Hochbett herumgelungert und ein Harry Potter Hörbuch gehört hab. Und wie ich so getan hab, als würde ich schon schlafen, als er nachts ins Zimmer kam – um dann, heimlich, noch ein bisschen wachzuliegen und den Lichtern der vorbeifahrenden Autos hinterherzuschauen, die über die endlos hohe Zimmerdecke zuckten.

Ich erinner mich, dass Deine Eltern, im Gegensatz zu meinen, gut bezahlte Berufe hatten und deswegen morgens keine Zeit, Dir Butterbrote zu schmieren und dass Du daher oft nur ein in Plastik eingeschweißtes Schokobrötchen mithattest. Wie gierig ich darauf war und wie bereitwillig Du es gegen meine veganen Vollkornbrote aus dem Reformhaus und meine blöden Möhrenstücke eingetauscht hast. Ich dachte deshalb manchmal, dass Du ein Idiot bist, aber heute kann ich Dich verstehen. 

Ich erinner mich, dass Dein großer Bruder immer wütend aussah und dass ich Angst vor ihm hatte. Er war Köln- und Du Bayern-Fan und einmal, als er krank war, durfte ich, zusammen mit Dir und Deinem Vater, ins Fußballstadion. Da war alles astronomisch groß und laut und aufregend, obwohl ich eigentlich doch gar kein Fußball mag. 

Ich erinner mich an die Abschlussfahrt, in der vierten Klasse, und dass wir auf einem Zimmer gewesen sind. Ich hab, mal wieder, etwas Dummes und Verletzendes gesagt und Du hast mich forsch zurechtgewiesen, dass das erbärmlich sei. Das fand ich richtig stark von Dir und hab mich geschämt, weil ich nie nachdenke und oft gemein bin. 

Irgendwann sind wir aufs Gymnasium gekommen. Du bist irgendwo hingegangen, wo es einen Sportschwerpunkt gab, weil Du ein guter Fußballspieler warst. Einmal hab ich Dich, Jahre später, im Bus gesehen, aber nicht gegrüßt. Und in der Oberstufe bist Du plötzlich zurück in die Heimat, auf meine Kleinstadtschule gekommen. Wir waren mittlerweile keine Freunde mehr, auch wenn Du immer gelächelt hast und jeder Dich mochte. 

Ich hatte schon ein paar Jahre studiert und stand auf der Wiese vor dem Universitätsschloss, als ein Kindheitsfreund unvermittelt Deinen Namen erwähnte. Mein Gesicht muss ganz blass geworden sein und auf einmal hab ich die Erdanziehung viel stärker gespürt. Aber ja, ich hätte richtig gehört: Lungenkrebs. Dabei hast Du nie geraucht und nie getrunken, weil der Sport und das Am-Leben-Bleiben Dir einfach wichtiger waren. 

Eine Jahreszeit später, wieder eins dieser widerwärtigen Gespräche, in denen nebenbei Dein Name fällt und alles in mir sich zusammenzieht.

Dann lange nichts. 

Dann der Termin für die Beerdigung. 

Zweiundzwanzig Jahre alt bist Du geworden.

Ich war seitdem nicht mehr am Grab, aber Du warst mit Sicherheit ein guter Mensch und ich will zumindest dankbar sein, für die paar schönen Augenblicke, die wir zusammen hatten.

Montag, 6. Januar 2020

Jeder Ausdruck meiner Zuneigung fühlt an wie eine Falschaussage

Ein paar Wochen später saß ich am Neujahrstag verkatert auf Deinem Balkon und verlor mich für unbestimmte Zeit im Anblick des haushohen Baums gegenüber und dem dahinter hellblau zerlaufenden Winterhimmel. Meine Beine waren angewinkelt und eine Zigarette verglomm weitestgehend ungeraucht.

Ich dachte unvermittelt daran, dass es da tatsächlich einen Menschen gibt, der mir – trotz allem – wichtig ist, durch dessen Existenz mein sonst so stumpfes Dasein zuweilen einen Sinn erfährt. Und ferner dachte ich, was für ein armseliger Freund ich bin, dass ich es schon wieder (wie immer) nicht schaffe, nüchtern zu bleiben, dass ich mal wieder seltsam werde und mich zu selten melde.

Dann schlug die Kirchturmuhr viermal. Ganz kurz habe ich gespürt, dass es Dich wirklich gibt.

Sonntag, 5. Januar 2020

Ein etwas längeres Sonntagsgespräch

»Du bist nicht so allein, wie Du Dich manchmal fühlst!«, hast Du mir zum Abschied hinterhergerufen. Dabei standest Du gebückt und übermüdet im Hausflur rum. Dein Gesicht war ganz entspannt und strahlte Wärme aus.

Den ganzen Sonntag hatten wir auf Deiner Couch gelegen. Vor dem Fenster tropfte Spätherbstregen auf die Dächer und im Raum stand dichter Zigarettenrauch.
Du hast Weißwein getrunken und Dir schweigend meine Fantasiegeschichten angehört. Und nachdem ich wie ein Wasserfall aus Wortkaskaden auf Dich eingeprasselt war – dass ich nicht weiß, was Liebe ist und dass mein Eisfrostdenken alles Fühlen lähmt (und so weiter und so fort … ) –, da hast Du plötzlich gesagt: »Ich weiß, es fällt Dir schwer, aber vergiss nicht, dass Du Dich letzten Herbst verliebt und dabei zum ersten Mal den Mut gefunden hast, ehrlich – ganz Du selbst – zu sein.« Dabei hast Du mich ernst angeschaut und Deine Augen sahen traurig aus. Dann haben wir stumm geraucht, bis es draußen dunkel wurde.
»Mein Leben ist der verzweifelte Versuch, so gut es geht so etwas wie ein Mensch zu werden«, hab ich nach unbestimmter Zeit in die Stille des Raums und das Prasseln des Regens hineingeflüstert und die bleichen Hände gegeneinander gedrückt. »Es dauert unendlich lange, das Fühlenlernen nachzuholen.« Mein Gesicht lief blutrot an.
Ich habe dann schnell an die Wand geschaut und mich für meine Art, zu sein geschämt.

Und irgendwann hab ich dann doch verstanden, dass wir beide Freunde sind, und dass ich mir keine Sorgen machen muss, von Dir verletzt zu werden. Da konnte ich Dir wieder in die Augen schauen und Du hast mich freundlich durch Deine Brillengläser angelächelt.