Atlas stand auf dem Marktplatz und starrte verschlafen in
den Himmel. Ein Sturm war aufgezogen und hatte sich, mit den Rufen der
Marktschreier vermischend, als schweres Tuch über die Stadt gelegt.
Es war ein merkwürdiger Nachmittag gewesen: Erst fiel in der ganzen
Stadt der Strom aus, dann fing das Bahnhofsgebäude Feuer und schließlich hatte er
sich den Fuß verstaucht, als er, auf der Gehwegkante balancierend, aus einem
Augenblick der Unachtsamkeit heraus, das Gleichgewicht verlor. Dazu diese
drückende Hitze! Das Wasser tropfte regelrecht aus allen Poren und die
vereinzelt mit ihm in Aktion getretenen Mitbürger wirkten allesamt fürchterlich
gereizt: Eine Kassiererin hatte die Augen verdreht und ihm die spitze Zunge
rausgestreckt, als er ihr einen Haufen schweißdurchnässtes Kupfergeld auf den
Tresen schüttete, und ein Busfahrer hatte ihn, ob seiner Trägheit beim
Monatsticket-aus-der-Brieftasche-Kramen, verächtlich einen »Windbeutel«
geschimpft.
Nun stand Atlas also auf dem Marktplatz, so frei von
jeglicher Verpflichtung wie tief im Unwissen um den gegenwärtig waltenden
Wochentag versunken. Lange schon – viel zu lange – war das geordnete
Leben an ihm vorbeigezogen und funkelte, von dichten Nebelschwaden verschluckt,
in der Ferne, wie ein kleiner Diamant am Milchglasgrund.
Stimmengewirr durchzog den Platz, im Hintergrund
Donnergrollen oder wild geschüttelte Wellblechplatten.
Plötzlich durchfuhr ein Ruck seine Schulter.
Als er den Blick hob, blieb dieser unvermittelt an dem
kantigen Porzellangesicht seiner Jugendliebe kleben.
Stille. Schnelle Atemzüge. Zungen zuckten hinter
Zahnreihen. Dann hob Atlas an: »Victor? Bist Du nicht nach…?«
Ein klirrendes Lachen, wie Hagel, der auf halb gefrorenes
Wasser prasselt. Victor legte Atlas‘ Kopf in seine bleichen Finger und küsste
ihm forsch die Schweißtropfen von der Stirn.
»München. Ja, ich bin nach München gezogen, mein kleiner
Seelenriese. Dein Hirn scheint also noch halbwegs zu funktionieren. Es
überrascht mich übrigens recht wenig, Dich immer noch hier anzutreffen, es wäre
wirklich ein Wunder, hättest Du es auch nur einen Meter aus der Heimatstadt
rausgeschafft.«
Plötzlich war da dieses Stechen, inmitten eines
Seelenkerns, den zu besitzen er doch sonst so vehement verleugnete; der nur bei
Victors bösen Scherzen kurz zu krampfen anfing. Atlas hatte Angst vor Victor
und schämte sich dafür.
Er schnaubte, kniff die Augen zusammen und erwiderte
pikiert: »Es wäre ebenso ein Wunder, könntest Du mir zufällig auf diesem
gottverdammten Marktplatz in die Arme laufen, ohne direkt klarzustellen, was
für ein Mann von Welt Du doch geworden bist.«
Atlas war eine weiße Leinwand, ein Mensch ohne Eigenschaften
– Victor ein Gesteinsbrocken, der auf die zertrümmerten Unterschenkel
eindrückte und einen am Fortlaufen hinderte.
Das war schon immer so gewesen, auch damals, als sie sich
als Schüler kennenlernten.
Victor hatte stets auf Atlas abgefärbt, der alles – jeden Blick und jede Geste – wie ein Putzschwamm aufsog.
Victor hatte stets auf Atlas abgefärbt, der alles – jeden Blick und jede Geste – wie ein Putzschwamm aufsog.
Ein Mädchen, vielleicht neunzehn Jahre alt, stapfte, lustlos
auf einem Kaugummi herumkauend, durch die beiden schwarz gekleideten Gestalten,
sodass sie einen Schritt nach hinten treten mussten. Atlas schaute hektisch
hinterher.
Als Kind hatte er stets stumm am Rand gesessen und den Rest
der Welt beobachtet, mit einem schmerzhaft stumpfen und doch nachdenklichen
Gesichtsausdruck, der seine Lehrer bis zuletzt ratlos zurückließ, ob ihn das
nun als besonders begabt oder als besonders beschränkt auswies.
»Hallo, hier bin ich!« – der Blick erneut an Victors spitzer
Nase klebend, begann die Welt für einen Augenblick zu zittern.
Beide waren sie Waisenkinder. Atlas sagte stets, er käme in
Wahrheit aus dem Wald und Victor scherzte dann, er sei aus dem Himmel
hinabgestiegen, um der Menschheit Erlösung zu bringen. Notfalls mit dem
Schwert.
»Komm, Du Trauerkloß; ich finde, Du solltest bei einer Tasse
Kaffee beteuern, wie sehr ich Dir gefehlt hab.«
Atlas schluckte – vergebens; sein ganzer Mund war
speichelleer.
Victor rotierte lachend um sich selbst und setzte seine Spinnenbeine in Bewegung. Kurz drehte er den Kopf nach hinten und zwinkerte Atlas zu. Der trottete wie mechanisch hinterher.
Victor rotierte lachend um sich selbst und setzte seine Spinnenbeine in Bewegung. Kurz drehte er den Kopf nach hinten und zwinkerte Atlas zu. Der trottete wie mechanisch hinterher.
Irgendwo geriet eine Fliege in ein Netz.
Das Café war voll von Tabakqualm. Schemenhaft bewegten sich
schöne, große Menschen durch den Dunst. Im Hintergrund Klaviermusik.
Victor setzte sich breitbeinig auf einen Sessel, sein
Gegenüber fiel steif auf einen Stuhl.
»Also«, Victors Stimme durchschnitt den Raum, »bist Du
momentan verliebt?«
Atlas starrte stumpf durch ihn hindurch.
»Nun schau mich schon nicht an wie einen Fremden, gerade ich
hab ja wohl ein Anrecht darauf, zu erfahren, wohin das Herz von meinem
Seelenriesen wuchert. Sag, an welchem Ufer schlägst Du gerade Deine Triebe,
zartes Pflänzchen?«
Victors Gesicht war zu einer verzerrten Fratze zerlaufen.
Atlas trommelte mit beiden Füßen auf den Boden, »hör mal, Victor, ich weiß wirklich nicht…«, an der Decke kreiste ein Ventilator, die Luft schmeckte säuerlich, »ich weiß wirklich nicht, was Du hier willst, und ehrlich gesagt, würde ich jetzt gerne nach Hause.«
Atlas trommelte mit beiden Füßen auf den Boden, »hör mal, Victor, ich weiß wirklich nicht…«, an der Decke kreiste ein Ventilator, die Luft schmeckte säuerlich, »ich weiß wirklich nicht, was Du hier willst, und ehrlich gesagt, würde ich jetzt gerne nach Hause.«
Zwei rote Augen blitzten Atlas böse an.
»Nur zu, ich halte Dich nicht auf, die Zeiten sind
vorbei. Du musst selber wissen, was Du willst.«
»Ich hab Dich geliebt, Victor.«
Die Fliege zuckte verstört mit den Beinen.
Victor schürzte die Lippen, »nun, kein Grund direkt sentimental
zu werden: Jetzt bin ich ja wieder da!«
Atlas überlegte, aufzustehen, blieb dann aber sitzen und
starrte Victor mit feuchten Rehaugen an. Ganz klein war er geworden, saß winzig
auf dem Stuhl herum und griff mit einer Hand die andere.
Victor schaute zu Atlas hinunter und sprach, langsam und
betont, sodass die Worte wie aus Wachs zu ihm hinabtropften: »Ich. Bin. Jetzt.
Wieder. Da.«, sein Kopf stieß mittlerweile an die Zimmerdecke, die
auseinandergestreckten Arme bildeten einen Horizont.
»Der Abend auf der Aussichtsplattform…«
Victor zischte gereizt: »Ach, Du dumme Gans! Nichts hast Du
verstanden!«
Atlas‘ Adern schwollen an. Nicht einen Brief. Nicht einen
einzigen Brief hatte er erhalten.
»Ich wusste nicht, ob Du tot bist, Victor.«
Siebzehn Jahre waren sie alt gewesen, als sie auf eine
Aussichtsplattform stiegen, von der aus man die rot blinkenden Schornsteine der
Industrieanlage und die glühenden Fenster der umliegenden Hochhausbauten sehen
konnte, um im Vollmondschein eine Handvoll Tabletten zu schlucken. Sie hatten
entschieden, dass sie keine Personen sein wollten, dass das Leben nicht
lebenswert sei. Ganz nüchtern hatten sie das – zu zweit und jeder für sich –
entschieden.
Victor war am nächsten Morgen verschwunden, Atlas hatten sie
den Magen ausgepumpt und ihn für ein paar Wochen weggesperrt. Jahre später las
er dann, dass Victor wohl als Fotograf in München lebte.
Atlas hatte niemals Ekel, Abscheu oder Zuneigung für
irgendetwas oder irgendwen empfunden. Victor hatte erstmals eine Art von Gier
in ihm geweckt.
Als dieser beiläufig bemerkte, dass er der Meinung sei, sie
sollten sich das Leben nehmen, gab Atlas keine Widerworte.
Am Ende wurden sie schweigsam. Selbst das Denken stand still. Stumm saßen sie für ein paar
Tage beieinander; dann stiegen sie zur Aussichtsplattform auf.
Es hatte gestürmt an dem Abend. Der Himmel war schwarz, bis
auf den Vollmond.
Sie hatten sich angelächelt – dann waren sie eingeschlafen.
Sie hatten sich angelächelt – dann waren sie eingeschlafen.
»Alles gut bei Euch, braucht Ihr noch irgendwas?«, eine
Bedienung war zu ihnen an den Tisch getreten und hatte, hektisch auf der Stelle
wippend, mit zarter Stimme nachgefragt; ein Gesicht wie eine Spitzmaus und
Augen wie Haselnüsse.
»Alles bestens, danke!«, lächelte Victor breit zurück,
worauf sie rot angelaufen nickte und eilig davonhuschte. Ein leises Rascheln
war zu hören.
Die Fliege machte ein Geräusch wie Starkstrom,
der die Leitung spannt.
»Nun, was soll ich sagen, Atlas, mein kaputtes Prinzesschen.
Ich denke, ich habe Dich wirklich gemocht, damals. Aber Du solltest aufhören,
in der Vergangenheit zu leben. Es ist an der Zeit, zu begreifen, dass es nicht
meine Schuld ist, und auch nicht meine Schuld war, dass Du Dich selbst nicht
kennst. Wir waren jung, ich fand Dich süß und alles war ein bisschen
durchgeknallt. Jetzt sitzen wir hier, Du schaust mich verstört an und ich bin
genauso genervt von Dir wie damals. Hör auf, Dich selbst als Anhängsel zu
sehen! Es tut mir ja leid, dass es Dir scheinbar schlecht geht, aber wenn Du
nicht lernst, loszulassen, dann hat Dein Leben keinen Wert.
Ich will Dir eine Geschichte erzählen: Romulus und Remus
saßen einst auf einer Mauer und stritten darum, wer von beiden nun der
Gründervater Roms sein sollte. Sie haben sich geliebt, wie Brüder sich eben
lieben, und wie auch wir waren sie Männer ohne Geschichte. Nur dass der eine
von beiden am Ende klug genug war, den anderen totzuschlagen, sodass eine so
prächtige Stadt wie Rom erwachsen konnte. Nun stell Dir bitte einmal vor, die
beiden Zankäpfel hätten sich ausgesöhnt. Was denkst Du, wie die Welt dann heute
aussähe? Ohne römisches Reich, ohne die Heldentaten der Alten? – Buchdruck,
Aufklärung, fliegende Autos, Unsterblichkeit – das wäre alles nichts geworden.
Also hör endlich auf, mich anzustarren wie ein Hund und entscheide Dich, Atlas!
Du musst Dich entscheiden!
Ich wollte Dir helfen. Meine Tabletten waren wirkungslos.
Ich habe vier Dutzend Placebos geschluckt. Wer hätte denn wissen können, dass
Du am nächsten Morgen wieder wach wirst, Du seelenloser Klumpen Mensch. Ich
wollte Dir die Freiheit geben, erstmals einen eigenen Entschluss – den einzig
richtigen für Dich – zu fassen.«
Das Spinnennetz war gerissen. Die Fliege flog
verwirrt davon.
Atlas erhob sich. Er blickte stumpf in Victors versteinertes
Gesicht.
Dann schwankte er zur Tür und stolperte ins Freie.
Dann schwankte er zur Tür und stolperte ins Freie.