Dienstag, 29. Oktober 2013

Immer noch Herbst

Glück kann man nicht kaufen?
Ich sitze in derselben Buslinie wie jeden Morgen.
Es ist ein grauer, verregneter Herbsttag.
Geschlafen habe ich in den letzten Wochen genauso wenig wie gegessen und anscheinend haben meine Gedanken mir endgültig den Krieg erklärt.
Alle zwei Sekunden fasse ich mir aus Angst, es könnte unbemerkt Blut rauslaufen, an die Nase.
Gott, sind meine Finger weiß.
Aber immerhin schön lang und dürr.
Wie ein paar kahle, knochige Bäume auf einem schneebedeckten Hügel inmitten einer verträumten Tim Burton Winterlandschaft, irgendwo im Nirgendwo.
Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich einen Obdachlosen mit einer Zeitung in der Hand auf einen jungen Mann zuschlendern.
Der junge Mann sieht trostlos aus, leer, eingefallen.
Aber vielleicht ist das auch einfach nur mein verzerrtes Spiegelbild in der beschmierten Fensterscheibe.
Der Mann und der Obdachlose blicken sich kurz in die Augen, doch der Mann schüttelt den Kopf und der Obdachlose und seine Zeitung ziehen weiter.
Die Miene des jungen Mannes verfinstert sich.
Als ich die Augen angestrengt zusammenkneife, sieht es so aus, als würde sein Gesicht schmelzen und Teile davon nach und nach auf den dreckigen, grauen Bordstein tropfen.
Aber vielleicht sind das auch einfach nur Regentropfen, die die verschmierte Scheibe hinunterlaufen und dann am Boden zerschellen.
Vielleicht ist es mir auch einfach egal.
Ein paar Meter weiter steht eine hübsche Frau mit langen, dunkelbraunen Haaren, in einem gelben Sommerkleid mit orangefarbenen Punkten drauf.
Was für ein lächerlicher Kontrast zur sonst so tristen Bahnhofsgegend.
Meine Augen beginnen zu brennen und durch den dumpfen Schmerz fühlt es sich an, als würde mir heißes Blut aus den Ohren tropfen.
Als ich die Hand, die gerade noch den imaginären Blutfluss an meinem linken Nasenloch kontrollierte, hysterisch an mein rechtes Ohr lege, sehe ich, wie der Obdachlose beginnt, seinen stinkenden, verkrüppelten Körper in Richtung der Frau zu bewegen.
Sie lächelt freundlich, nimmt sogar die Kopfhörer ab.
Doch als sie die Zeitung in der Hand des Obdachlosen erblickt, schüttelt sie langsam und vorsichtig – doch ungebrochen lächelnd – ihren schönen Kopf.
Der Obdachlose schlurft regungslos an ihr vorbei.
In derselben Sekunde gefriert ihr aufgesetztes Lächeln zu einem eiskalten Starren.
Alles nichts als soziale Norm.
Der einzige Grund, warum wir für ein paar Sekunden selbst dem widerwärtigsten Abschaum das Gefühl geben, wir würden ihn als einen Menschen sehen.
Eine Welle vollkommen gnadenloser Hässlichkeit überkommt mich, als der Bus um die Ecke in einen unbeleuchteten Tunnel abbiegt.
Das Letzte, was ich sehe, bevor ich wimmernd zusammenbreche, ist, wie sich mein Blut mit giftgrünem Erbrochenen mischt, einen kleinen See zwischen meinen beiden Händen bildet und mir dann durch die Finger hindurch, auf den schmutzigen Boden rinnt.