Donnerstag, 1. Dezember 2016

Denken heißt Überschreiten

Ich spüre wie der Winter kommt, ich nach und nach mit der ehemaligen Hauptstadt verwachse, die erhaben und träge am Rhein liegt, wie damals Marlene Dietrich, in ihrem Pariser Appartement: aufgequollen und zerfallen, sediert von starkem Schnaps  – ein letztes stures Festbeißen an einem verblichenen Mythos.
Der Nachtbus rollt, so übermüdet als wäre er Sisyphos selbst, in Richtung Rheinaue, in der ich, in gar nicht allzu lang vergang'nen Jugendtagen, Wochenende für Wochenende, mit Freunden auf Parkbänken sitzend in verschmierten Sonnenaufgängen versank, die das Siebengebirge und den Post-Tower so seltsam golden leuchten ließen, wie eingewickelt in Roche-Papier – am klaren Nachthimmel ein gierig gelber Vollmond, dem grellen Lichtkegel eines riesigen Scheinwerfers gleich, der mittlerweile komplett kahle Baumalleen in ölig-weiches Licht eintaucht.
Und ich fühl mich dieser Stadt und ihrer Historizität so merkwürdig verbunden – hin- und hergerissen, wie einst Ost- und Westberlin – doch bisher ohne Mauerfall, ohne innere Synthese. Und das Alleinsein in der Wohnung, das Alleinsein in der Stadt, erschließt mir eine seltsam allgemeine Einsamkeit, die ja letztlich doch in jedem tobt, sich niemals ganz totschlagen lässt.
Und der Wandel der Dinge lässt mich ratlos zurück: hegel'sche Vernunft in der Geschichte? – ein müder, alter Witz: im alten Diplomatenviertel werden Kinder totgetreten, direkt neben den dunkelgrünen Gräsern des Kurparks, die währenddessen im schneidend kalten Wind durch die Gegend oszillieren, wie bipolare Janusköpfe.
Und wird mir das ewig gleiche Weiß der Wände mal unerwartet doch zu viel, fahr ich tatsächlich auf den Weihnachtsmarkt – und hier, zwischen Gruppen junger Menschen, die ihr Leben im Griff zu haben glauben; achtzehnfach geklonten blond-blonden Prinzessinnen; japanischen Touristen und Jack & Jones Spacko-Jacken tragenden BWL-Affen, kann ich seltsam einfach untertauchen; rumglühweintrinkend in die Meute starren und mich dabei verwundert fragen:
Meint ihr das alles wirklich ernst?