Mittwoch, 23. November 2016

Jemand musste Atlas V. verleumdet haben

Mein in-die-Kleinstadt-geworfen-Sein hallt bis heute in mir nach –
die langen Winterwaldspaziergänge, irgendwann als Kind:
Seen zugefror'n von Eis – 
dieselben Seen, zehn Jahre später, mit Freunden auf Parkbänken sitzend,
nach Nächten ohne Schlaf – 
Rehe, scheu auf Wiesen steh'nd, Sommer ohne Endzeitpunkt,
alles voller roter Beeren.
Und die besten waren immer die, im Garten der Großeltern,
am zugewachs'nen Gartenteich, versteckt von dichtem Grün.
Kindheit verbracht vor dem Fernseher, verwachsen mit dem Bastkorbstuhl –
heute noch den Geschmack von Jahren angebranntem ALDI-Dosenfraß im Mund;
das Bild der endlos langen weißen Wand, nutzlos auf die Netzhaut eingebrannt.
Hab mich schon immer seltsam fremd – seltsam isoliert gefühlt,
bloß mein Großvater, der gute, hat mich irgendwie an diese Welt gebunden,
in ihm – neben meinen beiden Brüdern – den ersten
und letzten mir nicht fremden Menschen in diesem endlos langen Traum gefunden.
Erstes Zerbrechen an der Unerträglichkeit der Kleinstadtlangeweile, die
später beinahe zur Psychose wuchs, bis
zum letzten Atemzug wohl wütend in mir wuchern wird.
Von frühsten Kindheitstagen an anwachsender Hass auf den fetten,
verachtungswürdigen, selbstgefälligen Abschaum, der oben auf dem Hügel wohnt:
Mutter nicht da, ich allein, sollte bei irgendei'm dieser Bonzen pennen und
kriegte bloß gesagt:
,,Wir füttern dich nicht durch, guck halt wo du bleibst.''

Mit dreizehn Jahren Schule schwänzen; Eimer rauchen hinterm Schützenhaus –
ewig langes Lungenbrennen, ewig lange Traumsequenz.
Hat mir schon damals kein' Spaß gemacht, hab keine Ahnung was das sollte.
Bin seitdem ich denken kann, schlafwandelnd Richtung Hades;
handle, wenn ich handle, übereilt; mache meistens Dinge dumm.
Irgendwann dann erste Jugendliebe –
seitdem krankhaft besessen von langen schwarzen Haaren und
traurig-schwarzgeschminktem Blick.
Die paar Monate mit Dir –
dann irgendwann die erste Trennung
und irgendwas bricht aus mir raus, irgendwas, was dort schon lange lag –
und trotzdem sehen wir uns heut' zum Eis Essen oder Reden –
und ich sag Dir viel zu selten, weil ich sowas nicht gut kann,
wie gern ich Dich tatsächlich hab, wie dankbar dafür bin, dass
Du mir, durch die Vertrautheit, die Du mich dir geben lässt, 
einen Stein der Größe der Weltkugel von meinen schwachen Schultern nimmst –
also hier, an dieser Stelle, nochmals, danke für alles – ich bin froh, dass es Dich gibt.

Und nach der ersten großen Liebe, brach der kränkste Mensch der Welt auf mich herein –
bis heute diesen riesen Schaden in meinem ohnehin verdrehten Kopf.
Bloß ein Mal bei mir gepennt, mich damals schon belogen – 
ich damals vierzehn, Du noch dreizehn – wie krank, wie falsch – 
von heute aus betrachtet.
Weiß noch genau, die gottverdammte Sportumkleide, mein bester Freund steht neben mir,
neunte Klasse, kurz vor Mittagspause, deine SMS:
,,Ich bin schwanger, du bist schuld.'' –
Und Du kannst dich wirklich freuen, hast am Ende doch gewonnen –
mir fehlt ein riesen Stück des Lebens, fehlt ein riesiges Stück Glück.
Erinnerungen dräng'n sich auf: die Nacht oben in Alfter, bei meinem Bruder,
damals, als seine Mutter, meine Tante, noch lebte;
wie du mir schriebst, du hättest Schmerzen, von den Tabletten vom Arzt,
die unser Kind totmachen sollten –
Du kranker, kranker, böser Mensch.
Seitdem gärt da diese seltsam unbestimmte Wut in mir,
irgendwie die Schuld von mir zu weisen, irgendwie eine Art Sühne abzuleisten.
Und doch war auch all das vorher schon in mir, brach bloß durch Dich erneut heraus –
sogar Du, als mein Genickbruch, bloß Teil des dummen Spiels
Γνῶθι σεαυτόν.
Von da an nach und nach im dichter werdenden Nebel verschwunden –
wollte nicht mehr dieses ich-sein-Müssen, ging rapide dann bergab –
wo kommen diese Stimme her? Wie zur Hölle soll ich fünfzehn werden?
Aus blankem Hass auf diese Welt, aus blankem Hass auch auf mich selbst,
begann ein endlos langer weißer Winter, der bis heute wohl anhält –
find what you love and let it kill you, sagt der perverse alte Sack.

,,Ich fahr' schon nicht nach Duisburg, treff' bloß meine Freundin, mach dir keine Sorgen.''
Abends dann der Anruf aus dem Krankenhaus –
war nie was, außer Sorgenkind, alle paar Jahre beinahe tot.
Mit gerade fünfzehn inmitten dieser Massenpanik, werd' den Moment niemals vergessen –
das erbärmliche Schreien, die Enge, das an-den-Schultern-eingequetscht-Sein –
der Augenblick, in dem die Menschendecke sich schloss und
tausend Füße neben meinem Kopf rumtraten, ich,
als es immer dunkler wurde dachte: tja, das war's dann wohl mit dir (A).
Fühlte sich so seltsam ruhig an.
Irgendwann dann wieder wach geworden, in diesem riesen Berg aus Menschenfleisch –
mein linkes Bein beinahe tot, komplett taub und seltsam weiß,
keine Ahnung, wie lang eingequetscht,
zwischen Sterbenden und Schreienden und beidem, bis dann eben nicht mehr Seienden.
Wer weiß, was zur Hölle das aus einem macht: Mit fünfzehn Menschen sterben seh'n.

Mit nicht mal sechzehn den Schulranzen voll von buntem Gift –
schon damals in der guten alten Schwarzgoldenen, die heute noch am Haken hängt,
den Großvater für Geld belogen, dann in der Wohnung dieses Typens –
der Koffer bis zum Rand gefüllt, leuchtet gierig grell in Gold:
zum ersten Mal im Leben Macht gespürt – achtlos in den Schlund gesprungen,
stumm schreiend um mich schlagend hoffnungslos im Rausch versunken.
Since we're feeling so anaesthetised in our comfort zone –
reminds me of the second time that I followed you home:
Aus Versehen zum zweiten Mal mit der vermeintlichen Mutter meines
angeblich beinahe geborenen Kindes zusammengekommen.
Und Du hast allen Ernstes, als meine damalige Freundin, mehr als genug bei mir gekauft – 
alles auf einmal geschluckt, in der klaren Absicht, Dich selbst wegzumachen,
bloß um mir eins auszuwischen –
Dich von zehn Typen ficken lassen, 
bloß um mir ein bisschen wehzutun –
am Ende sogar meinem Bruder, nachdem dessen Mutter starb.
Als morgens dann der Anruf kam, dass meine Tante tot ist – beinahe in dein verhurtes Bett gekotzt –
hätt' ich gewusst, dass ihr Sohn am selben Abend noch, in die gleichen Laken spritzt –
ich weiß nicht, was gewesen wäre – zu grotesk, es bloß zu denken.
Kann dem Kleinen heute keinen Vorwurf mehr deswegen machen, lieb' ihn dafür viel zu sehr.
Und ich hab trotz allem Schwierigkeiten zu verstehen, wie übel die Dinge wirklich waren –
mit sechzehn alles voll von Chemie, Sperma, Blut und Tod.

Irgendwann dann meine Jugendliebe wiedergefunden –
nach drei Jahren erstmals das, was ich wirklich wirklich wollte –
doch die Narben saßen schon zu tief, statt bei Dir lieber in Köln gehangen –
ich dummes, dummes, krankes Kind.
Versucht in Holland zu entziehen, erster Urlaub mit ,,Freunden'' –
gegen meinen Willen, gegen meinen Rat, mit Spiritus gegrillt –
plötzlich lichterloh in Flammen stehend, panisch über den Platz gerannt –
in meinem Kopf nichts außer: tja, das war's dann wohl mit dir (B).
Und schon wieder – im Innern alles seltsam ruhig. 
Seitdem zehn Prozent der bleichen Haut verbrannt.
Nach den zwei Wochen Krankenhaus, wie ein Berserker geballert, trotz offen klaffenden Wunden –
rotes, blutig geschundenes Fleisch entzündet sich hässlich, verfärbt sich dunkelbunt;
bis zum drei Millimeter kurzen, verkokelten Haaransatz, in wuchernden Traumata,
haltlos fallenden Trümmern, versunken.
Heute hässlich fleckige Narben, an den einst entzündeten Stellen.
Dich am Ende dann doch wieder an meinen wütend tobenden Wahnsinn verloren, 
der doch damals erst durch Dich zum Vorschein kam.

Danach dann irgendwann, irgendwie doch noch achtzehn Jahre alt geworden,
komplett geblendet vom grellen Licht des Ganz-ganz-wach-Seins –
nichts als Schwärze, Bass und Strobolicht – zwei Jahre lang im Kellerclub.
Mein Großvater wird geisteskrank,
stirbt dann plötzlich weg –
seitdem fühle ich nicht mehr.
Außer mir war keiner da –
ein letzter lächerlicher Anruf, eine kleine kurze Nachricht –
und ich bin trotzdem nicht zu Dir gefahren, hatte zu viel Angst vor deiner Krankheit,
zu viel Angst vor deinem Wahn,
war zu schwach Dir, als mich mittlerweile hassendem,
vorher einzig für mich daseiendem Menschen, etwas entgegenzusetzen –
lagst dann drei Tage lang halbtot im Flur –
danach Notaufnahme –
danach Grab.
Und alles geht einfach weiter –
weiter, immer weiter
zieht ungebremst an mir vorbei.

Meine zweite große Liebe gefunden,
bloß um sie dann doch nur
wieder zu verlieren.

Jetzt, ohne Dich, so hilf- wie hoffnungslos auf mich –
die vorherigen 150 Zeilen zurückgeworfen;
und ich kann nicht damit umgehen –
ich kann nicht und ich will es nicht,
will, wenn ich etwas will, dann dich –
dich dich dich.

Wie sonst geht die Geschichte weiter?