Neulich, durch unbarmherzigen Frühlingsregen
einen ganzen Nachmittag im Uni-Innenhof gefangen, aus Langeweile Kette
rauchend, kam das Gespräch – wie auch immer – auf das, was jungen Menschen
wichtig sei: Deren Werte und Ziele.
Und es fällt mir derzeit (oder schon immer)
unangenehm schwer von mir selbst abzusehen. So gerne ich auch einfach über’s
große Ganze schriebe – die wirklich wichtigen Dinge, die hier und dort am
walten sind –, dreht sich der Blick ja doch nur wieder nach innen; formen die
paar Worte, die nach so langer Zeit des Schweigens sprudelnd aus mir
herausschwappen, doch nur wieder diesen einen Satz: Es fällt mir unangenehm schwer von mir selbst abzusehen.
Trotzdem zwinge ich mich den Gedanken
fortzuführen: Die Werte und Ziele der
Jugend.
Was mich als Erstes überkommt ist ein
untragbares Gefühl von Mutlosigkeit. Niemand
traut sich mehr, er selbst zu sein, es ist verpönt, ein Ich zu sein. Familien
mittlerweile völlig obsolet: Der Vater eine Witzfigur, die Mutter hinter einer
Wand aus weingetränktem Selbstmitleid. Beide vor dem Fernseher hängend, halb
hinhörend, schräg wegguckend, das Kind ermahnend, bloß den geraden Weg zu
geh'n.
Und niemand kann man einen Vorwurf machen: Der
junge, motivierte Lehrer spricht von Goethe und von Hitler – streift dabei
nicht mal im Ansatz die Schönheit der Sprache, die Leiden von Auschwitz.
Streift noch viel weniger den Versuch, jungen Menschen beizubringen, sich
selbst als Ich in dieser wirren Welt zu sehen. Streift höchstens mal den Brustansatz
der traurig austauschbaren kleinen Model-Imitate, während Heidi Klum ungestraft per Volksempfänger
propagiert: Du musst bloß genug Kotzen, nur für jeden Dreck zu haben sein – und schon bist du ein Mensch.
Auf derweil völlig entfesselt bunt blinkenden
Social-Media-Plattformen entblößen unbeholfen volltätowierte ewige Kinder mit aufgespritzten Lippen ihre kleinen bleichen Körper für ein paar digitale
Daumen: Die Trias aus Alles-Können,
Garnichts-Müssen und Absolut-Beliebig-Sein.
Als zweiter Begriff bedrückt mich der vom
Kollektiv oktroyierte Zwang zur
Selbstverleugnung.
Hat man diese erste Phase per se nicht
ernstzunehmender Eltern, seltsam blassen Lehrern und medial vermittelter
Totalpsychose irgends überstanden, wird als vermeintlich
mündiges Wesen in diese Gesellschaft angeblich
Freier und Gleicher entlassen, stellt sich nun so endgültig wie dringlich die
Frage: Was tun mit sich?
Zaghafte Möglichkeiten ungekannter
Selbstwirksamkeit täten sich auf, kurz nach dem ersten Abebben des
traumaartigen Schocks, tatsächlicher Möglichkeit wirklicher Freiheit.
Stattdessen: Australien oder Neuseeland?
Thailand oder Laos? Ketchup oder Mayo?
Es ist so schmerzhaft irrelevant. Kein von
Papa gesponserter Backpacktrip der Welt kann eine bis zur Unkenntlichkeit
deformierte Seele zurück in etwas Ganzes wandeln.
An dieser Stelle daher der platte Verweis, die
alte Floskel vom Fluch der Unversehrtheit: Denn wer den Bruch längst in sich
trägt, der braucht ihn nicht zu konstruieren. Ein noch so vorahnungshaftes Bewußtsein
der Widersprüche dieser Welt, das heißt, der Widersprüche seiner Selbst,
garantiert wohl mehr oder minder den sicherst-möglichen Schutz davor, als fünfhunderttausend
Follower Instagram-Account zu enden: Vor einem balinesischen Wasserfall auf
einer Felsenklippe stehend; einen großen weißen Schlapphut, dazu ein keck den
anorektisch-mädchenhaften Rücken umspielendes Kleid, ebenfalls in Weiß, tragend
(und damit unfreiwillig komisch jeden noch so arischen Übermensch*innen Traum
in den Schatten stellend). Das entweder clownesk oder aus vermeintlich
feministischen Motiven gar nicht erst geschminkte Allerweltsgesicht, das
zurückgebliebene kleine Mädchen kreischend beneiden und auf das Jungs allen Alters hektisch onanieren,
gekonnt-gespielt in Richtung Horizont und Sonnenuntergang gedreht; mit dickem
grünen Strohhalm aus einer Bio-Kokosnuss schlürfend, während die trotz
tropischem Klima perfekt geglätteten, endlos-langen deutsch-deutsch blonden
Haare wie in Zeitlupe eingefroren im lauen Sommerwind daherwehen. Dazu als
Bildtitel irgendein unerträglich geistloser Schwachsinn, wie »don’t worry, be
happy« oder »just be yourself«. Auf jeden Fall irgendetwas mit »be« und
absurden Versprechungen oder Forderungen an die armen Unterdrückten im Titel
tragend; und zehn Millionen Kommentare, der schönste Mensch der Welt zu sein.
Der schönste Mensch der
Welt: Ein mutloses, unmündiges, sich auf seiner scheitern müssen und
scheitern sollenden Selbstsuche unbeholfen selbst verleugnendes,
ewig-kindliches Wesen, von stumpfer, kalter Tragik, das das genauso
unausweichliche wie nicht mehr allzu ferne Ende der gesamten Menschheit schon
ganz in sich enthält.