Samstag, 9. März 2019

Der traurige König von Schloss Pilsener

Ich erwache aus unruhigen Träumen. Der erste Sinneseindruck, der sich meinem Gesichtsfeld aufdrängt, ist folgende Erkenntnis: In meinem Lesesessel liegen drei geleerte Dosen »Schloss Pilsener« herum. Ganz verwahrlost und zerknittert stechen sie in den sonst so ruhigen Raum hinein, hierin meinem Sorgenfalten zerfurchten Antlitz nicht ganz unähnlich, das scheel in Richtung der vereinsamten Pfanddosen starrt, sich scheinbar danach sehend, auch endlich erneut im Lesesessel zu liegen, vielleicht ein gutes Buch zur Hand zu nehmen.
Neben den drei Dosen befindet sich ein Korken, von einem vermutlich verschollenen Wein, den letzte Nacht getrunken zu haben, ich mich nicht so recht entsinnen kann; der wohl aber, meinem prekären Naturell gemäß, in derselben Preisklasse angesiedelt sein sollte wie das widerwärtig dunkelgrün gemusterte »Schloss Pilsener«.
Ein Bier übrigens, das in der durchschnittlichen Onlinebewertung mit nur vier von zehn Punkten abschneidet. Menschen, ehrlich gesagt: zumeist Männer, die ihren ausufernden Bierkonsum per pedantischem Onlinetagebuch dokumentieren und quasi-hauptberuflich romanlange Rezensionen zu sämtlichen Biersorten verfassen, sind eine außerordentlich seltsame Spezies des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Der Kopf dröhnt, die Lunge pfeift und im Hals hat sich ein beunruhigendes Kratzen ausgebreitet. Ich drehe mich umständlich auf die Seite und finde, ordentlich neben dem Bett drapiert, artig Spalier stehend, eine ganze Armada »Schloss Pilsener« Dosen vor, unterdessen ich eine latent ansteigende Beunruhigung beim Gedanken daran verspüre, den Blick weiter durch den Raum schweifen zu lassen. Bedingt durch die genauso präreflexive wie vermutlich schmerzhaft zutreffende Befürchtung, dort einige weitere fies ins Auge stechende Dosen »Schloss Pilsener« in diabolischem Dunkelgrün vorzufinden.
Ich stehe schwankend auf. Beim ersten wackeligen Schritt nach vorn ist ein lautes Schmatzen zu vernehmen: Die Füße sind in einer Pfütze, die frisches Blut, altes Bier oder billiger Rotwein sein könnte zur Hälfte eingesunken und kleben geblieben. Völlig festgetackert stehe ich im Raum herum: Alles voll von leeren Dosen und angstgefülltem Denken. Wie die Fliege im Spinnennetz im ekligen Morast versinkend, ergebe ich mich meinem Schicksal. Bis in der Zimmerecke schlagartig ein blutrotes Augenpaar aufblitzt, worauf der Körper hektisch einen Satz nach vorn macht und unbeholfen ins Badezimmer stürzt.

Völlig verkatert auf den kalten Fliesen liegend, tut sich dem getrübten Blick ein seltsames Holzelement auf, dessen Funktion mir genauso schleierhaft ist wie seine Herkunft. Der Sinn der Konstruktion könnte darin bestehen, dass man ein Handtuch unterlegt, um nach dem Duschen draufzutreten. In dem Holz befinden sich Spalten oder Rillen, durch die das Wasser nach unten abtropfen kann.
Ich liege also für unbestimmte Zeit auf dem Boden und das grelle Neonlicht der Badezimmerlampe flackert unbarmherzig vor sich hin.
Die gesamte Wirklichkeit kulminiert in dem absurden Umstand, dass ein kleines Pflänzchen – ja tatsächlich, ein kleines, lebendiges Pflänzchen – direkt vor mir seine Triebe geschlagen hat und durch die Spalten des Holz hindurch ins absolut zerfetzte Badezimmer wächst.

Das ist wirklich ein Grad der Verwahrlosung, den man sich nicht mal mehr ausdenken kann. Es wird am besten sein, ich krieche bis Frühlingsanfang zurück ins Bett.