Sonntag, 5. Januar 2020

Ein etwas längeres Sonntagsgespräch

»Du bist nicht so allein, wie Du Dich manchmal fühlst!«, hast Du mir zum Abschied hinterhergerufen. Dabei standest Du gebückt und übermüdet im Hausflur rum. Dein Gesicht war ganz entspannt und strahlte Wärme aus.

Den ganzen Sonntag hatten wir auf Deiner Couch gelegen. Vor dem Fenster tropfte Spätherbstregen auf die Dächer und im Raum stand dichter Zigarettenrauch.
Du hast Weißwein getrunken und Dir schweigend meine Fantasiegeschichten angehört. Und nachdem ich wie ein Wasserfall aus Wortkaskaden auf Dich eingeprasselt war – dass ich nicht weiß, was Liebe ist und dass mein Eisfrostdenken alles Fühlen lähmt (und so weiter und so fort … ) –, da hast Du plötzlich gesagt: »Ich weiß, es fällt Dir schwer, aber vergiss nicht, dass Du Dich letzten Herbst verliebt und dabei zum ersten Mal den Mut gefunden hast, ehrlich – ganz Du selbst – zu sein.« Dabei hast Du mich ernst angeschaut und Deine Augen sahen traurig aus. Dann haben wir stumm geraucht, bis es draußen dunkel wurde.
»Mein Leben ist der verzweifelte Versuch, so gut es geht so etwas wie ein Mensch zu werden«, hab ich nach unbestimmter Zeit in die Stille des Raums und das Prasseln des Regens hineingeflüstert und die bleichen Hände gegeneinander gedrückt. »Es dauert unendlich lange, das Fühlenlernen nachzuholen.« Mein Gesicht lief blutrot an.
Ich habe dann schnell an die Wand geschaut und mich für meine Art, zu sein geschämt.

Und irgendwann hab ich dann doch verstanden, dass wir beide Freunde sind, und dass ich mir keine Sorgen machen muss, von Dir verletzt zu werden. Da konnte ich Dir wieder in die Augen schauen und Du hast mich freundlich durch Deine Brillengläser angelächelt.