Freitag, 2. Oktober 2015

Dorfjunge in Großstadt

Mittwochabend, Ferdinand Dunst zieht die Tür leise hinter sich zu und geht vorsichtig die Treppe hoch. Ein paar wenige Lichtstrahlen der untergehenden Sonne fallen durch die Fenster aus Milchglas hindurch ins Treppenhaus. Als ihm der Flur nach drei Stockwerken immer noch nicht vertraut vorkommt, entscheidet er sich, nach unten zu gehen. Vor der Haustür stehend, fällt ihm ein, dass er ohnehin nach draußen wollte.
  ,,Keine Ahnung, wie lange du jetzt da warst - zwei, vielleicht drei Tage? Dieses verfluchte Sofa ist aus Kaugummi - wenigstens wird es wieder dunkel - in acht Minuten kommt die Bahn - Fuck, du musst rennen.''
  Er hat seit Freitag nicht geschlafen und dachte demnach, ihm wäre sämtliche Kraft abhanden gekommen, ist dann aber angenehm überrascht, als er bei dem Versuch loszurennen bemerkt, dass sein Körper, eher taub als ausgelaugt, den ihm gegebenen Befehlen ohne Widerwillen gehorcht.
  In der Straßenbahn gucken die Menschen Ferdinand komisch an, weil er ein bisschen nach Scheiße, Schweiß und billigem Tabak riecht. Dazu kann er nicht aufhören, die Augen erschrocken aufzureißen, knirscht mit den Zähnen und tippt nervöse Kurznachrichten in das gesplitterte Display seines Handys.
  ,,Fuck - die Leute starren dich an - nein, das bildest du dir nur ein - noch zehn Minuten hier sitzen, dann kannst du wieder raus - immer dasselbe Affentheater - du solltest echt mal runterkommen - vielleicht in zwei drei Woche oder so - dieses unter der Woche durchmachen, macht dich echt fertig.''
  Die fast leere Bahn fährt über den Rhein, während sich am Horizont die letzten dünnen Sonnenstrahlen mit den frisch ins Dunkel sprießenden Neonreklamen zu einem bunten Brei vermischen.
  Als sich an der nächsten Haltestelle die Türen öffnen, springt er ein bisschen schneller, als unverdächtig gewesen wäre auf und eilt zum Ausgang.
  ,,Ich muss so dringend pissen, fuck, ich kann nicht mehr - wo ist denn hier eine verfickte Toilette, Scheiße - das ist alles so unendlich beschissen - welcher Tag ist heute überhaupt? schon wieder Mittwoch, oder? Ja - na immerhin, dann kannst du heute feiern gehen, geil - und dann ist auch schon fast wieder Freitag - und Sonntag wollte ich noch zu Steven - falls der nicht mit Gini in Aachen ist.''
  Mit immer noch ängstlich aufgerissenen Augen betritt Ferdinand ein Fastfoodlokal.
  Er starrt auf den Boden, während er eilig an den auf ihren Plastiksofas sitzenden Familien, Pärchen und Jugendlichen vorbei, in den hinteren Bereich, zu den Toiletten geht.
  Der schwarze Klomann sitzt, mit geschlossenen Augen, an die Wand gelehnt, auf einem kleinen Hocker. Ferdinand versucht sich an ihm vorbei zu schleichen, streift den Mann aber versehentlich am Bein, woraufhin dieser seinen Oberkörper aufrichtet, seine geröteten Augen aufschlägt und Ferdinand feindselig anstarrt.
  ,,Ey, Mann! 50 Cent!''
  Ferdinand ignoriert die ausgestreckte Hand, geht versteift an ihr vorbei und schließt sich in einer der freien Kabinen ein. Sein Schwanz ist von dem ganzen Speed so dermaßen verschrumpelt, dass er Angst hat, aus Versehen durch den Schlitz zwischen Klobrille und Toilettenschüssel hindurch zu pissen.
  Jedes mal, wenn er seine Augen auch nur für eine Sekunde schließt, blitzt ein gleißendes Licht auf, das ihm, von einem ohrenbetäubenden Knall begleitet, die Augenlider wieder nach oben reißt.
  Trotzdem redet er sich ein, er bräuchte bloß tief durchzuatmen, sich bloß ein kleines bisschen zu entspannen.
  ,,Komm schon Mann, du kennst das doch, hattest das alles schon hundert mal - jetzt guck nach vorn und entspann dich einfach - dir - kann - nichts - passieren! Guck dir einfach die Holzmuster auf der Tür hier an - ja, die Holzmuster - die immer gleichen - Holzmuster - hör auf zu denken! - die Holzmuster - nur Holzmuster - Mittwoch - Freitag - Sonntag - Holz - endlich feiern - endlich aufhören - endlich frei sein - endlich drauf sein - draufgehn - Kreislauf - Ende - Tod.''
  ,,EY MANN! MACH DIE SCHEIß TÜR AUF!''
  Der Klomann hämmert, wütend schreiend, mit beiden Fäusten gegen die Kabinentür.
Ferdinands Körper quittiert endgültig den Dienst. Er seufzt kurz, fummelt ein kleines Tütchen aus seiner rechten Socke, steckt einen abgeschnittenen Strohhalm hinein, führt die Konstruktion an sein linkes Nasenloch und snifft drei mal energisch, während er mit seinen klebrig-verschwitzten Fingern den rechten Nasenflügel zudrückt. Anschließend bindet er seine Turnschuhe, steht unbeholfen auf, zieht erst Unterhose, dann Hose hoch und schließt letztlich die Schnalle seines mittlerweile zu groß gewordenen Gürtels.
  Ferdinand entriegelt das Schloss, drückt die Klinke hinunter und presst sich mit seinem gesamten Gewicht sprunghaft gegen die Tür. Der überraschte Klomann wird schreiend nach hinten gestoßen, knallt mit dem Hinterkopf gegen die Wandkacheln, verfängt sich mit dem linken Arm in einem der Pissoirs und fällt mit lautem Knacken zu Boden.
  Ferdinand sprintet aus dem Herrenklo - greift im Vorbeilaufen noch hektisch mit seiner rechten Hand nach dem Kleingeldteller des Klomanns - sprintet weiter - durch den hinteren Bereich des Ladens - dann durch die Schiebetüren hindurch - zurück auf die Straße.
  Er sprintet und sprintet und sprintet (und sprintet und sprintet und sprintet).
  Die Stadt versinkt langsam in der ersten richtigen Herbstnacht, Blätter werden dunkelgelb, Ferdinand schlägt ein kalter Wind entgegen.
  ,,Fuck! Fuck! Fuck! Das war's jetzt - die kriegen dich - Fuck. - weg von hier!''
  Er rennt, wie ohne Willen; biegt in wahllos wechselnder Reihenfolge mal links, mal rechts ab; läuft durch fremde Straßen, blickt in verwirrte Gesichter.
  Nach ein paar Minuten verlangsamt sich sein Schritt - das Herz sticht, die Lunge brennt.
  Er lässt sich auf den Boden fallen und rollt sich neben der Auffahrrampe eines Parkhauses im Dunkeln zusammen.
  Wie er so halb verdreht auf dem Rücken im Dreck liegt, muss er unwillkürlich in Richtung Himmel starren. Keine Wolken, keine Sterne. Nur ein riesig großer, gierig funkelnder, fetter Vollmond, der sein Licht wie ein dickes dichtes Netz über die Stadt spannt.
  ,,Fuck, dein Herz, du musst dich beruhigen - hier draußen kriegen die dich - lieber ins Odonien - ja, schnell ins Odonien - Fuck, du hast keine Kohle mehr - aber wenn du vor dem Eingang 'n bisschen was verkaufst, passt das schon mit dem Geld ''
  Ferdinand bleibt ungefähr acht Minuten in einer schmerzhaft unbequem aussehenden Position liegen, richtet sich dann auf, klopft den Dreck von seinen Klamotten und fängt langsam an, zurück in Richtung Straßenbahn zu laufen. Seine Augen bleiben an einem beleuchteten Plastikbierkrug kleben.
  ,,Trinkhalle - Bier 1€ - von 6 bis 2 Uhr geöffnet.''
  Er steigt, die geklauten Münzen in seiner Hosentasche zählend, die Stufen zum Ladeneingang hinauf.
  ,,Zwei Reissdorf und ein Red Bull bitte.''
  ,,Junge, siehst du scheiße aus. Tu dir selbst und der Welt einen Gefallen und geh endlich pennen.''
 Ferdinand geht am Eingang des Clubs vorbei, hundert Meter weiter, dann über die Straße und den schmalen, von Brennnesseln übersäten Weg zu den Bahngleisen nach oben.
  Von Handytaschenlampen erleuchtet sitzen Jugendliche in mehren Kreisen und kratzen nervös Speedpaste hin und her.
  ,,Mach mal schneller Mann - wie lange noch? - ich will endlich wieder tanzen gehn - komm schon, geht das nicht 'n bisschen schneller? Puste mal, ich glaub das hilft - jetzt mach mal hinne - ich hab keine Lust mir 'ne scheiß Blasenentzündung zu holen, nur weil der Wichser uns nasse Paste verkauft hat!''
  Ferdinand denkt sich, dass es eigentlich keine schlechte Idee wäre, nach dem Pissen auch noch was zu ziehen - nur ein kleines bisschen. Dann verkauft er an zwei der Teenager etwas von seinem schlechten Speed und geht zurück in Richtung Club.
  Das Geld reicht gerade so für den Eintritt und ein paar Bier. Die Nacht über trifft Ferdinand, wie jeden Mittwoch - und jeden Freitag - und jeden Samstag - und jeden Sonntag - dutzende und aberdutzende der ewig gleichen, gesichts- sowie charakterlosen Teilzeitfreunde - die, wie immer, immer nur das gleiche reden - zieht zu viel, trinkt zu viel - viel zu viel.

  Aber was soll's - an dieser Stelle braucht man eigentlich nicht weiter von dieser Nacht zu berichten.
Wer das alles nicht kennt, wird's auch jetzt nicht verstehen - und wer's kennt, der weiß genau, welche stumpfe Idiotie, welche verlockend ins Nichts greifende Leere, welche seit gefühlten tausend Jahren gesprungene Platte in diese kalten Oktobernacht zum millionensten Mal aufgelegt worden ist.

  Morgens kriecht die Sonne dann, sich schon beinahe für das Pack schämend, dass an diesem dreckigen Donnerstagmorgen, von ihren zitternden Strahlen aufgedeckt werden wird, langsam zurück an den Himmel.
  Das größte Bordell der Stadt leuchtet golden, beinahe mystisch. Leute in dreckigen Klamotten sitzen, mit verklärtem Lächeln im Gesicht, auf dem Boden herum. Ferdinand trägt eine Sonnenbrille, trinkt Bier und schaut über die Dachkante des Bordells hinweg, auf die dahinter erwachsende Sonnenkugel.
  Langsam weicht die Kälte, eine angenehm frische Brise streicht, durch die verätzten Nebenhöhlen hindurch, das leergedrogte Gehirn.

  ,,Hier ist es schön - hier will ich bleiben!''