Dienstag, 16. August 2016

Weiter, immer weiter

Mittwochabend, Ferdinand Dunst zieht mit zitternder Hand umständlich die Tür hinter sich zu und schleicht, von einer bösen Vorahnung begleitet, so leise er kann die Treppe hoch. Jedes Knarzen der Holzstufen verstärkt schmerzhaft die Verspannung in seinem steifen Nacken. Ein paar wenige Lichtstrahlen der untergehenden Sonne fallen durch die Fenster aus Milchglas hindurch ins Treppenhaus. Als ihm der Flur nach drei Stockwerken immer noch nicht vertraut vorkommt, dreht er sich – wie von selbst – auf der Stelle um und geht zurück nach unten. Vor der Haustür stehend fällt ihm auf, dass er ohnehin nach draußen wollte.

Keine Ahnung, wie lang du jetzt da warst – zwei, vielleicht drei Tage? Dieses verfluchte Sofa ist aus Kaugummi – wenigstens wird es wieder dunkel – Fuck, in acht Minuten kommt die Bahn – du musst rennen.

Das lähmende Gefühl dem eigenen Handeln bloß ohnmächtig zuzuschauen bäumt sich in ihm auf, hatte er doch, den Tag über auf dem Sofa festgeklebt, alle acht Minuten den digitalen Bahnfahrplan aktualisiert und wie so oft geplant, rechtzeitig aus dem Haus zu gehen, einmal abends heimzukommen.
Ferdinand hat seit Samstag nicht geschlafen und erwartet demnach nichts, als den körperlichen Totalausfall, ist dann aber angenehm überrascht, als er bei dem Versuch loszurennen bemerkt, dass sein Körper den ihm gegebenen Befehlen mehr oder minder ohne Widerwillen gehorcht. Während er rennt zückt er alle paar Meter sein Handy, um die ihm verbliebene Zeit zu überprüfen – vergisst, wieder und wieder, wann die Bahn denn kommt – rennt trotzdem einfach weiter.
Als er die Haltestelle erreicht, steht dort bereits eine wie wild in die Dämmerung hineinblinkende Straßenbahn bereit, deren Türen sich, samt mahnenden Worten des Schaffners – die verdammten Jugendlichen sollen doch bitte endlich die verfluchte Lichtschranke freigeben – pumpend und schnaubend zu schließen beginnen. Er quetscht hektisch einen Arm dazwischen, springt ins Innere der Bahn und setzt sich laut keuchend und schnaufend in einen der widerlich braun gesprenkelten Plastikviersitzer, deren Anblick den Wunsch sich zu übergeben tausendfach verstärkt.
Nervös starrt Ferdinand auf den Straßenbahnboden, nicht zu Unrecht der Überzeugung die anderen Fahrgäste musterten ihn kritisch bis verächtlich; weil ihm wieder und wieder der beißende Eigengeruch von Scheiße, Schweiß und billigem Drehtabak in die Nase sticht; weil er nie gelernt hat, die innere Ablehnung – Entfremdung – nicht auf alles um ihn herum zu projizieren; weil er nicht weiß, was Traumata und Psychosen bewirken; weil er Stufenbester war und dennoch die Dorfschule nach der neunten Klasse abbrach.
Dazu kann er nicht aufhören die Augen erschrocken aufzureißen, er knirscht mit den Zähnen und tippt nervöse Kurznachrichten an seinen älteren Bruder in das gesplitterte Display des Handys.

Hey, Konstantin, – ja, mir geht es gut in Köln. Hier ist es schön – hier will ich bleiben. Klar komme ich die Familie bald besuchen – vielleicht in zwei drei Wochen oder so. –
Fuck – die Leute starren dich an – nein, das bildest du dir bloß ein – noch acht Minuten hier sitzen, dann kannst du endlich wieder raus – gleich bist du zu Hause – einfach einmal einen Abend Ruhe und Entspannung – immer dasselbe Affentheater, wenn du unterwegs bist – dieses unter der Woche Durchmachen macht dich echt fertig.

Die beinah leere Straßenbahn fährt langsam über den Rhein, während sich am Horizont die letzten dünnen Sonnenstrahlen mit den frisch ins Dunkel sprießenden Neonreklamen zu einem bunten Brei vermischen.
Als sich die Türen an der nächsten Haltestelle schon wieder zu schließen beginnen, springt Ferdinand, ein bisschen schneller, als unverdächtig gewesen wäre, auf und quetscht sich erneut umständlich durch diese hindurch nach draußen.

Ich muss so dringend pissen – Fuck – ich kann nicht mehr – wo ist denn hier eine verfickte Toilette – das ist alles so unendlich beschissen – welcher Tag ist heute überhaupt? Mittwoch, oder? Ja – na immerhin, dann kannst du zur Not auch feiern gehen, geil – und dann ist auch fast schon wieder Freitag – dann gönnst du dir halt einfach am Wochenende 'ne Pause.

Mit immer noch ängstlich aufgerissenen Augen betritt Ferdinand ein Fastfoodlokal. Er starrt auf den Boden, während er eilig an den auf ihren Plastiksofas sitzenden Familien, Pärchen und Jugendlichen vorbei, in den hinteren Bereich, zu den Toiletten geht.
Ein Klomann sitzt mit geschlossenen Augen an die Wand gelehnt auf einem kleinen Hocker. Ferdinand versucht sich an ihm vorbeizuschleichen, streift den Mann aber versehentlich am Bein, woraufhin dieser seinen Oberkörper aufrichtet, die geröteten Augen aufschlägt und Ferdinand feindselig anstarrt.

»Ey, Mann! 50 Cent!«
»Fick dich selbst, du Affe!«

Ohne, dass er wüsste wie ihm geschieht, zuckt Ferdinands Körper ruckartig nach vorne, trägt ihn überhastet ins Herrenklo, lässt ihn mechanisch eine Tür aufstoßen. Er hatte seit Jahren niemanden mehr beleidigt – in seinem Kopf dreht sich alles schneller, immer schneller.

»Ey Mann, mach die scheiß Tür auf!«

Der Mann hämmert mit beiden Fäusten gegen die Kabinentür. Ferdinand entgleitet ein unkontrolliert wimmernder Laut, während er wieder und wieder mit schweißnassen Händen versucht ein kleines Plastiktütchen aus seiner zerfetzten Socke zu ziehen. Er schüttet sich, vergeblich gegen die zitternden Gliedmaßen ankämpfend, einen riesigen Haufen weißes Pulver auf den rechten Handrücken, saugt – die eine Hälfte achtlos verschüttend – die andere so gierig wie verzweifelt in sein linkes Nasenloch, springt dann, plötzlich alle Kraft beisammennehmend auf und rammt mit seiner linken Schulter gegen die Kabinentür. Der überraschte Klomann wird schreiend nach hinten gestoßen, verfängt sich mit dem Arm in einem der Becken und fällt mit lautem Knacken zu Boden. Ferdinand sprintet aus dem Herrenklo, greift im Vorbeirennen noch hektisch nach dem Kleingeldteller – sprintet weiter, immer weiter – durch den Laden, dann die Schiebetüren hindurch, zurück auf die Straße. Er läuft und läuft und läuft.

Fuck! Das war’s jetzt – was zur Hölle machst du hier?! – schnell, renn weg!

Ferdinand biegt in wahllos wechselnder Reihenfolge mal links, mal rechts ab, läuft durch fremde Straßen, blickt in verwirrte Gesichter.
Nach ein paar Minuten verlangsamt sich sein Schritt: Das Herz sticht, die Lunge brennt. Er lässt sich auf den Boden fallen und rollt sich neben der Auffahrrampe eines Parkhauses im Dunkeln zusammen. Und wie er so halb verdreht auf dem Rücken im Dreck liegt, muss er unwillkürlich in Richtung Himmel starren: Keine Wolken, keine Sterne, nur ein riesig großer, gierig funkelnder, fetter Vollmond, der sein Licht wie ein dickes, dichtes Netz über die Stadt spannt.

Fuck, dein Herz, du musst dich beruhigen – hier draußen kriegen die dich – nach Hause ist es von hier aus zu weit – lieber ins Odonien – ja, schnell ins Odonien – Fuck, du hast keine Kohle mehr – aber wenn du vorm Eingang ‘n bisschen was verkaufst, dann passt das schon mit dem Geld.

Ferdinand bleibt acht Minuten – exakt die Zeit, die sein Bruder vor ihm auf die Welt kam – in einer schmerzhaft zusammengezogenen Position liegen, richtet sich dann auf, klopft den Dreck von seinen Klamotten und fängt langsam an zurück in Richtung Straßenbahn – der einzigen Konstante in seinem sonst so wirren Leben – zu laufen. Seine Augen bleiben an einem beleuchteten Plastikbierkrug kleben: Trinkhalle – Bier 1€ – von 6 bis 2 Uhr geöffnet. Er steigt, die geklauten Münzen in der Hosentasche zählend, die Stufen zum Ladeneingang hinauf.

»Zwei Reissdorf und ein Red Bull bitte.«
»Junge, siehst du scheiße aus. Tu dir selbst und der Welt einen Gefallen und geh bitte einfach pennen.«

Das ohnehin schon blutleere Gesicht Ferdinands wird endgültig kreidebleich. Bevor dieser auch nur einen Gedanken denken kann, grabscht sein Körper die drei Kaltgetränke so unsicher wie überhastet vom Tresen, dreht sich übereilt und unbeholfen um, und springt, von einem zersetzenden Gefühl der Scham getrieben – wieder nur versagt zu haben, am Ende, ganz allein zu sein – die Treppenstufen der Trinkhalle hinab.
Der Gedanke an eine erneute Straßenbahnfahrt lässt den lang schon leeren Magen krampfen und so läuft Ferdinand zu Fuß in Richtung Stadtrand, versinkt dabei in Gedanken an seinen großen Bruder, die Einsamkeit der Stadt und das kleine Grab im Heimatdorf.
Er spielt mit der Vorstellung doch noch zurück nach Hause zu gehen, seinen Bruder von dort aus anzurufen, sich einfach mal zu melden, ein richtiges Gespräch zu führen, vielleicht sogar noch heute Nacht vorbeizukommen, endlich zuzugeben, dass es ihm schon lange nicht mehr gut geht, er so gern zurück nach früher, zurück in seine Heimat würde.zzz
Doch die Beine laufen einfach weiter, die Arme hängen stumpf daneben.
Allein schon dieses zaghafte Annähern an ein Gefühl des guten Lebens lässt die äußersten Schichten seines Innersten oberflächlich antauen. Der Augeninnendruck pulsiert, das Laternenlicht verschwimmt und alles leuchtet golden. Ferdinand fühlt sich an seine Heimat zurückerinnert, sieht sich dicht bei der Familie sitzen.

Beständig klopft der langsam fallende Schnee gegen die beschlagenen Fensterscheiben des durch die voll aufgedrehte Heizung erwärmten Wohnzimmers. Nach und nach bleiben vereinzelte Flocken kurz kleben, lösen sich dann doch, verschwinden in der Nacht. Der Teppich, auf dem er sitzt, ist durchzogen von dunkelroten, orientalischen Mustern, die sich schlangenlinienartig durch den ganzen Boden zu bewegen scheinen. Der Tannenbaum ragt mannshoch bis unter die Decke, verdrängt alles Schlechte aus der Welt, strahlt in sattem Dunkelgrün. Dutzende Lichterketten blinken behäbig im Hintergrund und alles riecht nach Zimt.
Sein einziges Gefühl, sein einzig wahrer Wunsch, ist auf ewig in diesem Zustand zu verweilen.

Als er nach gefühlten Jahren des Schlenderns durch den Spalt aus Kindheitserinnerung und Straßenlärm den Stadtteil der Nachtclubs und Bordelle erreicht, geht er – einen kurzen Blick auf die Warteschlange werfend, die ihn an seine finanzielle Situation erinnert – am Eingang des Clubs vorbei, hundert Meter weiter, dann über die Hauptstraße hinweg und den schmalen, von Brennnesseln gesäumten Weg zu den Bahngleisen nach oben. Von Handytaschenlampen erleuchtet, sitzen dort Jugendliche in mehreren Kreisen und kratzen nervös Speedpaste hin und her. Der Anblick spaltet axtgleich seinen Schädel, trennt auf ewig das, was war, von dem, was ist, zertrümmert jeden guten Willen, zerhackt fein säuberlich sämtliche Fluchtrouten zurück in Richtung Außenwelt, wirft ihn meilenweit in sein verdrehtes Selbst zurück. Und Ferdinand denkt sich, dass es eigentlich keine schlechte Idee sei, auch noch was zu ziehen – nur ein kleines bisschen –, während sein Bruder und das Heimatdorf stumm schreiend im fallenden Schnee einer sich verdunkelnden Erinnerung versinken. Dann verkauft er an zwei der Teenager etwas von seinem schlechten, viel zu teuren Speed und geht zurück in Richtung Club, fühlt sich dabei grundlos gut, sodass er unwillkürlich in die Hände klatscht.

Die Nacht über trifft Ferdinand dutzende und aber dutzende der ewig gleichen, gesichts- sowie charakterlosen Teilzeitfreunde, die ihm für den Moment als seine besten scheinen, von ihm herzlich angelächelt werden, ihm sagen, wie gut ihm seine neuen weißen Turnschuhe stehen.
Ein Augenblick der Heimat, Heimkehr, den er so oft gehabt – trotz dessen großer Strahlkraft so schmerzhaft stark verlebt hat. Ein Moment, in dem er ganz kurz ganz bei sich ist, hübschen Mädchen schöne Augen macht und vor Bekannten mit Geschichten prahlt, die, wie immer, immer nur über dasselbe reden, ganz diesem Moment entsprechend, der so hilflos schwankt zwischen ewig wahr und inhaltsleer.

Morgens kriecht die Sonne dann, sich schon beinah für das Pack, das an diesem Donnerstagmorgen von ihren zitternden Strahlen aufgedeckt wird schämend, langsam zurück an den Himmel. Das größte Bordell der Stadt leuchtet golden, beinahe mystisch. Leute in dreckigen Klamotten sitzen mit verklärtem Lächeln im Gesicht auf dem Boden herum. Ferdinand trägt eine Sonnenbrille, trinkt Bier und schaut über die Dachkante des Bordells hinweg auf die dahinter erwachsende Sonnenkugel. Langsam weicht die Kälte, eine angenehm frische Brise streift durch die verätzten Nebenhöhlen hindurch das leergedrogte Gehirn.
Hier ist es schön. Hier will ich bleiben.