Sonntag, 6. November 2016

Jenga II

Das Einzige, was Matthew Ellis noch mehr hasst als sein Leben, ist der Bürojob, der seit nunmehr 15 Jahren den größten Teil von diesem einnimmt.
6 Uhr morgens, der Wecker klingelt. Aufstehen, zittrig anziehen, Kokain zum Frühstück. Hektisch aus dem Haus stolpern, hektisch in die überfüllte U-Bahn quetschen. 30 Minuten stillstehen, 30 Minuten Todesangst. Das ewig gleiche mechanische Quietschen der elektronischen Schiebetür, das ewig gleiche falsche Lächeln in Richtung der zwei zwangsblondierten Zwillinge am Schalter, beim Betreten des Bürokomplex. Kurze Erinnerung an den Vorfall auf der Firmenfeier vor vier Jahren – leichte Erektion.
Und alles wiederholt sich, läuft auf ewig in gleichen Bahnen.
2001 Schritte bis zum Aufzug, 9. Knopf von links, 11. Reihe von oben. Nur um dann, trotz relativ hoher Position, eingepfercht in seiner bürokratischen Legebatterie, eingezäunt von drei, zwei Meter hohen Pappaufstellwänden, von frühmorgens, bis spät abends, hunderte von tausenden von Jahressteuerbescheid-Excel-Listen auf Ungereimtheiten zu überprüfen.
Der Aufzug rast nach oben.

Atlas Gogol, restlos zerfressen von ungebremster Flugangst, wendet sich genauso blutleer wie zittrig in Richtung seiner Klatschzeitschrift lesenden Adoptivmutter, die ihm, verdeckt von zwei kilometerweiten Sonnenbrillengläsern, zum zehnten oder elften Mal auf diesem Flug, mit einer Engelsgeduld, wie sie ausschließlich leicht angetrunkenen Müttern, gegenüber ihren stark verdrehten Kindern vorbehalten ist, mahnend rezitiert, wie sicher das Fliegen doch sei, und dass ja, wenn überhaupt, nur auf jedem 500.000 Flug etwas passierte – sodass er gerade anfängt, ihr ihren Quatsch zu glauben, als der Mann, auf dem Sitzplatz neben ihm, der bisher tief und fest zu schlafen schien, sich plötzlich schreiend zu ihm umdreht.

Matthew sieht einen Schatten auf seiner Schulter und blickt widerwillig auf – Thomas Palahniuk, ein so widerwärtiger Mensch, dass man ihm am liebsten auf die geschmacklos gepunktete Krawatte kotzen würde. Seine abstoßend trockenen Lippen schieben sich unaufhaltsam zu einem grotesken Lächeln auseinander, entblößen dunkelgelbe Zähne, einer schiefer als der and're. Schweißtropfen kleben auf der Stirn, der fette Bauch ragt, wie ohne Willen, sinnlos in den Raum hinein: ,,Na mein Freund, wie ist die Lage?'' Matthew merkt, dass ihm bedingt durch Thomas Thunfischmundgeruch tatsächlich schlecht wird.
,,Tom, was soll ich sagen? Ich denk', ich kann nicht klagen.'' –
,,Fein, fein mein Freund!' 
Stunden sickern zäh dahin.
Und Thomas, jenseits jeglicher Konvention auch nur ansatzweise rationalen Handelns, macht keine Anstalten, sich auch nur einen Meter zu bewegen; bleibt einfach stumpf stehen, wippt sinnlos hin und her.

Harry Chinaski schiebt seinen bis oben hin mit buntem Pfand gefüllten Einkaufswagen ächzend vor sich her. Heute wohl wieder kein Glück gehabt. Keinen Platz zum Pennen gefunden, nichts von der Familie gehört. Fuck, wie lang ist der ganze Stress mit der Trennung und dem Haus jetzt her? Schon viel zu lange auf der Straße. Der Älteste müsste mittlerweile aufs College gehen, Physik oder so.
Der Herbst klopft drohend an die Tür, starrt wie ein Vollidiot zum Fenster rein.
Die Straßen werden langsam kalt, der Schnaps hält auch nicht wirklich warm. Harry nimmt trotzdem einen großen Schluck – und irgendwie ergreift ihn eine seltsam leichte Heiterkeit, sodass er unwillkürlich in die Hände klatscht, während sich sein krummer Körper durch eine der wenigen Grünanlagen der Stadt schiebt, die heute in so lächerlich leuchtendem Rot und Gelb und Braun erstrahlt, dass das eigene Scheitern – erbärmlichstes, dreckigstes, menschliches Scheitern – seltsam fremd, seltsam fern erscheint.

Matthew reckt – es auf Grund des lächerlichen Anblicks unmittelbar bereuend – umständlich den Kopf, und versucht über die unzähligen von Reihen aus Büroarbeitern und Pappaufstellwänden hinweg, einen Blick aus der endlos breiten Fensterfront zu erhaschen – kriegt nicht viel zu sehen, außer flackernden Bildschirmen und stur auf ihre Tastaturen einhämmernden Arbeitsrobotern.
,,Schön, schön!'' sagt Thomas, immer noch dumm grinsend, weiter sinnlos wippend. Und Matthew, mittlerweile getrieben von blinder Verzweiflung, lässt panisch seinen Blick schweifen – bleibt auf der Suche nach irgendeinem Ausweg am Wandkalender kleben.
Und wie er noch so denkt: Bloß 104 Tage bis Weihnachten, dann kannst du dich immerhin auf der Firmenfeier mit den zwei Zwillingen zu Tode saufen – zerreißt ein ohrenbetäubender Knall den Augenblick in seine Einzelteile und Matthew Ellis segelt, selig lächelnd, aus dem 66. Stock des World Trade Centers, neben Flugzeugsitzen und Leichenteilen dem New Yorker Bürgersteig entgegen.
Und das Letzte, was er sieht, bevor er auf dem krummen Körper eines seltsam gut gelaunten Obdachlosen aufschlägt, ist, wie das schlingernde Rotorblatt, eines fallenden Propellers, in Zeitlupe von hinten angeflogen kommt und Thomas Palahniuks zögerlich-verwirrtes Lächeln in zwei blutverspritzende Hälften teilt –
Na also, geht doch!