Donnerstag, 6. Februar 2014

Regenspaziergang

Kalter Regen peitscht mir ins Gesicht, der Sturm lässt mein Halstuch durch die Luft fliegen und meine Beine knicken bei jedem Schritt auf dem nassen Asphalt zur Seite weg. Als ich mit meiner Hand nach dem kalten Metallgeländer greife, zuckt ein Eisblitz durch meinen Arm hindurch bis tief ins Herz hinein.
Vorsichtig streife ich meinen schwarzen Mantel ab, falte ihn und lege ihn umsichtig an den Rand der Brücke, dann ziehe ich mir Pullover und T-Shirt über den Kopf und lege beides ebenfalls gefaltet auf den Mantel. Ein kleines, kaum sichtbares, schwarzgraues Quadrat. Meine Gürtelschnalle klimpert und mit leisem Surren löst sich der seit Jahren getragene Ledergürtel von meiner Hüfte und fällt auf den Boden. Obwohl sich alle Haare meines Körpers aufgestellt haben und der Wind mir über den Rücken streicht, ist mir nicht kalt. Alles, was ich wahrnehme, ist ein dumpf dröhnendes Summen in meinem Trommelfell. Ich fluche nicht mal, als ich bei dem Versuch, mir meine viel zu enge Hose über die nassen Beine zu ziehen, umkippe und mir den Kopf unschön auf dem Asphaltboden aufschlage. Ich schlüpfe vorsichtig aus meinen Schuhen, ziehe mir die regennassen Socken von den Füßen und blicke dann auf das Quadrat vor mir auf dem Boden. Es ist mir einfach seltsam egal, nicht mehr und nicht weniger.
Meine zerzausten Haare flattern wahllos durch die Gegend, erste Teile meines schneeweißen Körpers verfärben sich langsam dunkelrot oder veilchenblau. Sturm und Regen tanzen gemeinsam um mich herum und ein gewaltiges Beben, dessen Epizentrum ich zu sein scheine, bringt die gesamte Brücke zum Schwanken.
Ein letzter Blick nach oben, ich lege den Kopf in den Nacken und ein Sturzbach aus Regenwasser plätschert auf den Bordstein, während über mir nachtschwarze Wolken vorbeiziehen. Es ist, als würde man in ein ewig waberndes schwarzes Loch blicken.
Niemand der unmittelbar hinter mir vorbeieilenden Passanten macht Anstalten etwas zu unternehmen.
Niemand scheint sich an dem nackten Jungen zu stören, der an einem verregneten Donnerstagnachmittag auf dem Geländer der Kennedybrücke sitzt und Löcher in die Luft starrt.
Ein letztes Mal küsse ich das Foto von dir, das ich seit Jahren in meinem Portemonnaie mit mir herumtrage, dann beginne ich langsam meine Augen zu schließen.
Der Horizont wird schmaler und schmaler, bis nur noch der Posttower als letztes, winziges Licht am Ende des dunklen Tunnelblicks verbleibt. Ich atme ein und meine Gedanken beginnen abzuschweifen:
Ich denke an längst vergangene Sommerwochenenden in der Rheinaue;
ich denke an die ewig pulsierende taube Einsamkeit;
ich denke an das Gefühl von Schwerelosigkeit;
ich denke daran, wie das Schwimmbecken immer näher kam, als ich als Kind an heißen Sommerferientagen im Freibad vom Sprungbrett sprang;
ich denke an die wundervollen Gespräche mit all den Menschen, die ich auf den Parkbänken am Rheinufer zu meiner rechten geführt habe. –
Ich denke an das flackernde Licht der Neonröhre über mir;
ich denke an den Bastard, der die Firma betreibt, die diesen kaputten Kugelschreiber hergestellt hat, mit dem ich mühsam versuche meine Gedanken aufzuschreiben;
Ich denke, ich hasse mich selbst so sehr, dass ich am liebsten tot wäre.

Doch egal wie sehr ich von Trauer und von Hass zerfressen bin, irgendetwas hält mich in diesem Leben,
zerrt mich von diesem Geländer hinunter,
wickelt mich in ein warmes Handtuch und gibt mir einen heißen Tee,
ohrfeigt mich und schreit mich an,
nimmt mich in den Arm und trocknet meine Tränen,
trägt mich in mein Bett und küsst meine Stirn,
legt mir die Hand über die Augen und summt mir aus der Ferne bittersüße Melodien ins Ohr,
bis ich tief und fest eingeschlafen bin.